Freier Blick auf die Fruchtblase

In London zeigt die Ausstellung „Spectacular Bodies“, wie sich die Wissenschaften bei der Kunst bedienten, wenn es um Darstellungen aus dem Inneren des Menschen ging. Umgekehrt wurde die Anatomie zum Schlachtfeld für bildende Künstler

von BENJAMIN PAUL

Die Faszination, die für uns vom menschlichen Körper ausgeht, ist eine Faszination der Hülle. Nur allzu gern verdrängen wir das blutige Gemisch aus Fleisch und Knochen, das dahinter lauert. Bereits die Vorstellung einer offenen Wunde erfüllt den Laien mit Grauen, und so kommt es denn auch, dass die Bilder in Schulbüchern eher elektrischen Schaltkreisen gleichen als einem menschlichen Organismus. Während das Innere des Körpers weiterhin Spezialisten vorbehalten bleibt, ist die Beschäftigung mit der ständig sichtbaren Oberfläche eine Obsession nahezu aller Menschen: Seit je verbindet sich gerade mit dem Äußeren die Hoffnung, zum Innersten des Menschen vorzudringen. Hier soll sich das Wesen offenbaren, und eine ausgefeilte Syntax aus Mimik, Gestik, Farbe und Konturen hilft dabei.

Diese Trennung war nicht immer so scharf. Wie die Ausstellung „Spectacular Bodies“ in der Londoner Hayward Gallery zeigt, beschränkten sich Künstler der frühen Neuzeit wie Leonardo da Vinci, Dürer oder später auch Rembrandt nicht auf Physiognomie, sondern drangen gleichermaßen in die Niederungen des menschlichen Organismus ein. Besonders Leonardos Studien des Gehirns, der Adern oder des menschlichen Fötus, die fast alle in London zu sehen sind, entsprachen und übertrafen teilweise sogar den damaligen Standard der Wissenschaft.

Überraschend ist auch, wie stark selbst streng empirische Arbeiten auf künstlerische Darstellungsmittel zurückgriffen. So illustrierte beispielsweise Charles Estienne seine Abhandlung über den Frauenbauch (in „De dissectione partium corporis humani“, 1545) mit einem Kupferstich einer sich aufreizend im Bett ausbreitenden Frau, deren einzig ungewöhnliches Element der aufgeschnittene Oberkörper mit dem freien Blick auf die Gedärme ist. Estienne bediente sich hier also einer vertrauten zeitgenössischen Bildsprache, um den Schock des Ungewöhnlichen abzuschwächen.

Diese Strategie der narrativen und architektonischen Ausschmückung bestimmt die Abbildungen in wissenschaftlichen Abhandlungen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Doch auch der sich im folgenden durchsetzende, scheinbar so objektive Modus – etwa in den minutiösen Zeichnungen von Körperfragmenten in Henry Grays „Anatomy descriptive and surgical“ (1858) – verfolgte letztlich ganz ähnliche Ziele. Aufgrund des hohen Abstraktionsgrades erscheint das Gezeigte so verfremdet, dass es kaum noch Erstaunen hervorruft und überhaupt nur schwer mit Menschen in Verbindung zu bringen ist. Die heutige Präsentation des Körpers als ein komplexes Gefüge aus abstrakten Zeichen hat hier ihren Ursprung.

Den Gegenpol zu einer solch distanzierenden Darstellungsweise bilden die zahlreichen Wachsmodelle, die in „Spectacular Bodies“ zu sehen sind und die dem Titel der Ausstellung vollauf gerecht werden. Diese teilweise extrem genauen Nachahmungen sezierter Leiber erscheinen wegen ihrer Größe, Plastizität und Farblichkeit täuschend echt und lassen keinen emotionalen Abstand mehr zu. Gerade Letzteres begründet ihre unheimliche Wirkung, denn laut Freud entsteht das Unheimliche aus der Rückkehr von etwas Verdrängtem in das Bewusstsein – in diesem Fall also aus der Rückkehr der unterdrückten Erinnerung an die eigene Fleischlichkeit. Die starke Ästhetisierung hat mitunter humoristische Nebenwirkungen: So hebt Manfredis halb entblößte Frauenbüste mit anmutigem Gestus zwei Hautlappen empor, als wären sie Reizwäsche, während sie tatsächlich nur den Blick auf den Zwölffingerdarm und ihre Fruchtblase frei macht.

Wie ein aufgeschnittener Körper tatsächlich aussieht, zeigt hingegen John Isaacs, einer der acht ausgestellten zeitgenössischen Künstler. Sein hingestrecktes Männerfragment lässt die Klarheit und Sauberkeit der anderen (Lehr-)Modelle vermissen. Hier glänzt das künstlich gefertigte Blut auf den freigelegten Knochen und auch die Muskeln sind weder farblich unterschieden noch von sehniger Struktur, sondern aus einer einzigen saftigen Masse.

Angesichts dieses Blutbads wird es nur allzu verständlich, warum allgemein die Hülle dem Kern vorgezogen wird. Entsprechend gilt trotz der in London versammelten Beispiele die Aufmerksamkeit der Künstler auch weiter vor allem der Physiognomie als einem ihrer traditionell wichtigsten Ausdrucksmittel. Parallel zur Erforschung des Körpers gab es spätestens seit der Renaissance Versuche, das Studium der Mimik zur Wissenschaft zu erheben und ihre scheinbar direkte Verbindung zur Seele durch einen Katalog von Ausdrücken zu systematisieren. Mit dieser Entwicklung setzt sich der zweite Teil der Londoner Ausstellung auseinander.

Dabei zeigt sich schnell, dass Physiognomie eben nicht bei der Untersuchung von glücklichen oder traurigen Gesichtsausdrücken Halt macht, sondern als angeblich unmittelbarer Ausdruck der Essenz des Menschen schon früh ein Schlachtfeld der Diskriminierung wurde. Während die Renaissance noch recht harmlose Analogien zwischen Tier- und Menschengesichtern zog (Giovan Battista della Porta, aber auch LeBrun im 18. Jahrhundert), wurden schon bald darauf vermeintliche Gesichtsmerkmale von Rassen, Kriminellen oder Geistesgestörten archiviert. Obwohl die Ausstellung auf Beispiele aus Hitlers Rassenlehre verzichtet, ist dieses finale Stadium der Physiognomie ständig implizit präsent. Trotz aller Faszination an der Erforschung des Körpers bewahrt sich „Spectacular Bodies“ immer eine gewisse Distanz zum naiven Optimismus der Wissenschaft. Das ist gerade angesichts des momentanen Enthusiasmus über die Verheißungen der Biotechnologie eine wohl tuende Haltung.

„Spectacular Bodies“. Bis 15. 1. 2001, Hayward Gallery, London