Kohls Stasi-Akte wegsperren?
NEIN

Helmut Kohl ist alles andere als ein Opfer. Er hat etwas zu verbergen. Und er will, dass es verborgen bleibt, sagt der Historiker und Politikwissenschaftler MARTIN JANDER

Kaum sind die Feiern zum zehnten Jahrestag der neuen Bundesrepublik vorbei, da ist auch die neue Konjunktur des Begriffs „Zivilcourage“ beendet. Eine ganz große Koalition aus CDU, SPD und PDS macht erneut den Versuch, die von Opposition und Bevölkerung der DDR gemeinsam erkämpfte Sicherung und Öffnung der Stasi-Akten ganz rückgängig zu machen oder zu entschärfen: Leitkultur ohne Erinnerung mit Bürgerrechtlern als Folklore heißt das Konzept.

Helmut Kohl möchte natürlich vor allem seinen Verfassungsbruch hinter der Stasi-Bespitzelung verschwinden lassen. Dass der „Kanzler der Einheit“ jedoch für seine Initialzündung zu einer Überarbeitung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes statt Windbeutelwürfen breite Unterstützung erhält, verweist auf komplexere Zusammenhänge. Damals – so wird gegenwärtig argumentiert – sei das Gesetz von Volkskammer und Bundestag geschaffen worden, die Struktur des Ministeriums für Staatssicherheit offen zu legen und nicht die Geschichte ihrer Opfer zu erforschen.

Das ist nur halb richtig. Opferakten sind nicht nur einfach Sammlungen kriminell erworbener Informationen. Sie sind darüber hinaus Arbeitsunterlagen, die den Prozess der Manipulation, Entwürdigung und „Zersetzung“ der Gegner der SED und derjenigen, die sie dafür hielt, dokumentieren. Da wurden Gerüchte gestreut, bewusst berufliche Misserfolge organisiert, Ehen zerstört, überflüssige Konflikte ausgelöst und vieles mehr. Der gesamte Alltag eines jeden Menschen konnte in eine Hölle verwandelt werden. Angestrebt wurden der handlungsunfähige Untertan und eine atomisierte, aller Mittel zur Selbstkonstitution unfähige Gesellschaft. An der politischen Neutralisierung jeglicher Kritik waren nicht nur haupt- und ehrenamtliche „Soldaten an der unsichtbaren Front“ beteiligt, sondern auch Richter, Nachbarn, Lehrer, Ärzte, Parteisekretäre und viele andere. Opferakten sind also auch ein wesentlicher Schlüssel zum Kollektiv der Täter. Nicht wenige SED- und Stasi-Opfer haben Teile ihrer Akten deshalb zusammen mit Kommentaren publiziert, um den Blick auf die Diktatur frei zu machen.

Kohl hat diese Zivilcourage bei aller demonstrierten Nähe zu DDR-Bürgerrechtlern nicht. Er ist kein Opfer wie Bärbel Bohley. Er ist kein Täter wie Manfred Stolpe. Er ist einfach nur der Exkanzler, der die Details seines Verfassungsbruchs verbergen möchte. Ob er aber als Person der Zeitgeschichte eine Ausnahme geltend machen kann? Die gerichtliche Prüfung wird es zeigen.

Die große Koalition seiner Unterstützer will den Zugang von Wissenschaftlern und Journalisten auch zu den Opferakten von Personen der Zeitgeschichte von der ausdrücklichen Zustimmung der Opfer abhängig machen und damit unabhängige Recherchen zum Täterkollektiv erschweren. Schließlich haben nicht nur die Angehörigen der SED und der staatsnahen Organisationen die Enttarnung ihrer arbeitsteiligen Einbindung in die Diktatur zu befürchten, sondern auch die freiwilligen und unfreiwilligen Helfer der Diktatur in der alten Bundesrepublik.

Die Würde der Opfer – dies dürfte aus der anhaltenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bekannt sein – nimmt im Land der Täter nicht wieder gutzumachenden Schaden, wenn ihre Verfolger ins Dunkel des historischen Vergessens abtauchen. Das Konzept einer deutschen Einheit ohne Erinnerung an die SED-Diktatur und den Nationalsozialismus ist gefährlich: Mit vergesslichen Republiken gibt es in Deutschland schlechte Erfahrungen.