Flucht in die Sackgasse

Viele junge tibetische Flüchtlinge finden im indischen Exilort Dharamsala nicht das erhoffte Glück. Zu den alteingesessenen Flüchtlingen haben sie kaum Kontakt

DHARAMSALA taz ■ Von weitem schon glänzen die Wellblechdächer der Notunterkünfte in der Sonne. 700 Schüler werden aus großen Töpfen versorgt, in denen meist das gleiche fade Essen bereitet wird. Das kalte Wasser in den Duschen fließt nur, wenn die einzige Pumpe nicht gerade ausfällt. Wäsche und Geschirr werden im Fluß gewaschen. Vier Neubauten lassen die „Tibetische Transitschule“ nicht ganz wie ein Slum aussehen.

Die Schule liegt weit außerhalb der indischen Stadt Dharamsala und ihres Ortsteils McLeod Ganj, wo Tibets Exilregierung um den Dalai Lama ihren Sitz hat. Knapp 7.000 Tibeter leben hier. Gegründet wurde die Schule 1990, um Flüchtlinge zwischen 18 und 30 Jahren auszubilden, die für normale Schulen zu alt sind. Immer mehr Tibeter wagen die gefährliche Flucht über den Himalaja, um eine Ausbildung zu suchen. In ihrer Heimat können sie das Schulgeld höherer chinesischer Schulen nicht zahlen oder sind mit Chinas Bildungspolitik unzufrieden.

Doch viele Hoffnungen werden enttäuscht. Der Unterricht umfasst gerade mal Tibetisch und Englisch. Daneben gibt es noch Elektriker-, Schneider- und Schreinerkurse und seit kurzem eine EDV-Ausbildung. Für mehr fehlt es an Lehrkräften und Geld. Kaum einer der Touristen und Prominenten auf Stippvisite beim Dalai Lama, wie kürzlich Sarah Ferguson, verirrt sich hierher und spendet etwas. „Die meisten besuchen das Kinderdorf oder das Auffanglager in McLeod Ganj. Traurige Kinderaugen erweichen die Herzen mehr als die Probleme junger Erwachsener“, sagt eine Helferin.

Vor kurzem wurde die Ausbildung auf fünf Jahre verlängert. Wie es danach weitergeht, wissen die wenigsten. Die Rückkehr nach Tibet ist riskant. Wer in Indien war, wird von Chinas Behörden argwöhnisch beobachtet und nicht selten verhört und verhaftet. Bleibt nur, in Tibet fern des Heimatortes unterzutauchen und sich eine neue Existenz aufzubauen. Das erfahren die meisten erst in Dharamsala.

In Indien bekommen die Tibeter mit der Ausbildung der Transitschule kaum einen Job. Als nur geduldete Flüchtlinge droht ihnen im Konfliktfall mit den Behörden die Abschiebung. Indien gibt Flüchtlingspässe nur an Nachkommen der 1959 und Anfang der 60er-Jahre Geflüchteten aus. Einen Flüchtlingspass zu „kaufen“ kostet viel Geld. Das lässt sich mit den umgerechnet fünf Mark monatlichem Taschengeld nicht ersparen.

„Mit den alteingessenen Flüchtlingen haben wir kaum Kontakt. Sie sagen, als sie mit dem Dalai Lama kamen, hatten sie gar nichts. Wir bekämen jetzt alles. Sie verstehen unsere Probleme nicht“, sagte Tashi. Der 24-Jährige kam vor zwei Jahren nach Dharamsala. Die meisten Hotels, Restaurants und Souvenirläden in McLeod Ganj gehören Flüchtlingen der ersten Generation und sind Familienbetriebe. Da gibt es kaum zusätzliche Arbeitsplätze. Erschwert wird das Zusammenleben auch dadurch, dass die meisten jüngeren Neuankömmlinge besser Chinesisch als Tibetisch sprechen – ein Resultat der chinesischen Bildungspolitik, die darauf zielt, die tibetische Identität auszulöschen. Pro Jahr flüchten bis zu 3.000 Tibeter nach Indien. Die Hälfte sind unter 30 Jahre alt. Solange China seine Politik der Assimilation und kulturellen Unterdrückung nicht ändert, werden Tibeter fliehen.

RÜDIGER PHILIPP RACKWITZ