Der Mann im Müll

Ein vorweihnachtlicher Besuch bei einer vertrauten Person

von STEFAN KUZMANY
und ARNO FRANK

„Hereinspaziert! Ich bin der Mann im Müll!“

Etwas erstaunt war ich schon. Dass der mich so einfach reinließ. Andere würden sich schämen. Doch der Mann im Müll nicht. Er schien in Gastgeberlaune. Freundlich wies er ins Innere seiner Wohnung. Ich zögerte beim Eintreten. Es stank nach vergammelter Unterwäsche.

„Stören Sie sich nicht an dem Geruch. Das Zeug liegt hier eben schon eine Weile. Die Waschmaschine ...“

Er schulterzuckte die Achseln. Der Mann im Müll war ungefähr vierzig Jahre alt und nur unzureichend bekleidet. Ein weites T-Shirt, das einmal weiß gewesen sein mag, flatterte um seinen dicken Bauch. Mehr trug der Mann im Müll eigentlich gar nicht am Leib. Bis auf seine lustige runde Brille natürlich. Ein wenig sah der Mann im Müll aus wie ein alt gewordener, heruntergekommener Harry Potter. Der Mann im Müll gähnte. Ein beißend scharfer Geruch wehte mir entgegen.

„Warten Sie bitte. Ich ziehe mir nur schnell etwas über.“

Der Mann im Müll verschwand und wies mir einen Platz auf einem Stuhl am Tisch im Wohnzimmer. Den Stuhl musste ich mir aber erst einmal freiräumen. Da lag der Spielplan eines Scrabble-Spiels, dessen Buchstaben über den ganzen Boden verstreut waren. Ein Discman. Fotos mit dem Mann im Müll drauf. Ein alter Spiegel („Die hysterische Republik“).

Über der Lehne übereinander hingen zwei Jacken. Ich hängte darüber meine eigene Jacke. Der Tisch war übersät von Müll. Eine leere Rotweinflasche stand hier, „Castelli Romani“, eine alte Bild-Zeitung lag darunter („Jennys Baby doch von Lauterbach?“) sowie zwei leere Zigarettenschachteln der Marken Nil und Gauloises Blondes. Drei leere Bierflaschen gab es hier und eine ausgebrannte Kerze, ihr gelbes Wachs fest verschmolzen mit einem Stapel Werbebroschüren von Pizzabringdiensten. Zwei halbleere Tassen, in denen Schimmel schwamm. Ein Krug, der früher einmal Tee enthalten haben könnte. Zwei Aschenbecher, einer aus Zink, einer aus Plastik, die der Mann im Müll offenbar nicht benutzte.

Der Mann im Müll benutzte offenbar lieber die leere Nil-Schachtel als Aschenbecher. Oder den Boden. An den Wänden stapelten sich Zeitungen und Zeitschriften und Magazine und Wochenschriften und Pizzakartons. Glitzerndes durchsichtiges Plastikpapier purzelte über das Parkett. Nicht von selbst: Ein kleines Insekt trug das Papier behende auf dem Rücken, wohl um sein Nest damit zu vollenden.

Der Mann im Müll war wieder da. Er hatte sich ein rotes Weihnachtsmann-Kostüm übergezogen. „Tut mir Leid, das ist meine einzige saubere Kleidung.“

Plötzlich: Mücken. Erst eine, dann zwei, vier, viele. Hellgraue Mücken mit großen hellen Augen, ungewöhnlich langen Fühlern. Fliegen mit Stummelflügeln. Eine Motte mit transparenten Schwingen. Und allerlei überraschende Mutationen mehr. „Wollen Sie wissen, woher die kommen?“, fragte mich der Mann im Müll. „Wollen Sie das wirklich wissen?“

„Nein“, sagte ich, „ich will wissen, ob sie beißen.“

„Papperlapapp“, sagte der Mann im Müll. „Kommen Sie mit.“

Ich folgte ihm in die Küche. Oder in den Raum, der früher einmal eine Küche gewesen sein musste. Vor langer, langer Zeit. Ein schmaler Trampelpfad führte durch und über den Unrat zum Kühlschrank. Weiter hinten lauerte die Spüle. Zunächst dachte ich, er hätte aus Scham ein schwarzes Tuch über das Geschirr gebreitet.

Dann, beim Nähertreten, erkannte ich den pelzigen Film dunklen Pilzes, der das brackige Wasser, das Waschbecken und die Kacheln bis hinauf zur Tapete bedeckte, die bereits bröselnd Brocken warf. Furchtlos näherte sich der Mann im Müll dem feucht-schwärenden Schlamassel und klopfte mit den Fingerknöcheln der rechten Hand gegen einen der Kessel, die dort wie gekenterte Kähne silbern in der Brühe steckten: „Hier drin brüten sie. Hier drin.“ Er lachte heiser und hustete.

Er verheizte den Müll. In jedem Zimmer seiner Altbauwohnung gab es einen alten Kachelofen, und darin verheizte der Mann im Müll seinen Müll. Damit lebte er sehr billig, auch wenn es ihm manchmal Streit einbrachte mit den Behörden. Die sahen es nicht gerne, wie schwarzer Rauch aus dem Schornstein des Hauses des Mannes im Müll aufstieg. „Die sollen sich nicht so haben. Was sind denn Müllverbrennungsanlagen schon anderes?“ Der Müll heizte die Wohnung gut. Wohlige Wärme erfüllte den Raum. Gerade die Insekten gediehen prächtig.

Wie konnte es mit dem Mann im Müll und seiner Wohnung nur so weit kommen? Der Mann im Müll erzählte. Der Mann im Müll wollte einmal, als er noch kein Mann im Müll war, seine „Zeitausnutzung optimieren“, wie er sagte. Nur noch einmal in der Woche, so nahm er sich vor, wollte er den Müll herunterbringen. Denn diese Menge, die sich innerhalb einer Woche angesammelt hatte, konnte er gerade noch auf einmal tragen. Und so, rechnete er sich aus, würde er eine Menge Zeit sparen.

Fünfzehn Minuten in der Woche, um genau zu sein. Die konnte er sehr gut brauchen, denn der werdende Mann im Müll war sehr beschäftigt und hatte für derlei Dinge wie Haushalt keine Zeit. Leider verpasste er deshalb auch den ersten wöchentlichen Termin zum Müllherunterbringen. Und den nächsten auch. Und auch den folgenden. Der Müll wurde immer mehr. Er stapelte den Müll. Und sah ein, dass es immer weniger ausmachte, ob er noch einen weiteren Müllsack in der Wohnung deponierte. Es wurde nicht mehr dreckiger. Aus dem Mann war der Mann im Müll geworden.

„Der Müll hat meine Wohnung erobert“, sagte der Mann im Müll einschränkend. Ausgehend von einem handelsüblichen, an sich harmlosen Mülleimer, zu dem sich bald die ersten Tüten gesellten. Auch die Spüle erwies sich rasch als unsichere Kantonistin, die Gestank und Verwesung Tür und Tor zur Wohnung öffnete.

Während er aber gerade mit verzweifelten Spülgängen in der Küche kämpfte, tat sich im Schlafzimmer eine völlig neue Front auf: Alte Socken, Unterhosen, Hemden und Hosen quollen aus dem Wäschekorb und bedeckten sukzessive den Boden. Angespornt von diesem Vorbild, mochten sich bald auch nicht mehr die CDs auf ihr angestammtes Regal bescheiden, sondern verteilten sich militärisch geschickt in kleinen Gruppen, bald sogar nach Hülle, Tonträger und Booklet getrennt.

„Es schmerzte mich sehr“, sagte der Mann im Müll und tastete nach einem Taschentuch, „meine stolze Sammlung so im Chaos aufgehen zu sehen. Aber ist nicht das Leben selbst Verfall, unser aller Bestimmung die Entropie?“ Aus dem Radio drang besänftigend Bob Dylans Don’t think twice, it’s alright. Der Mann im Müll putzte sich die Nase, warf das Taschentuch über die Schulter und sagte: „Die vielleicht wichtigste Schlacht habe ich am Herd verloren.“ Als Kochen unmöglich geworden war, sei er auf Pizza umgestiegen – die entsprechenden Kartons erwiesen sich als kriegsentscheidende Hilfstruppen, die bald hartnäckig Fernseher, Stühle, Tische und den Balkon okkupiert hatten.

Der Balkon? Der Mann im Müll nickte bedächtig, erhob sich ächzend. Ich folgte ihm über verschlungene Pfade, durch altpapierne Schächte, vorbei an schweigsamen Umzugskisten, durch Täler bunt bedruckter Postwurfsendungen und über die eisigen Gipfel der Nachlässigkeit – bis wir schließlich, erschöpft, vor einer Tür aus Milchglas standen.

„Hier war ich schon sehr, sehr lange nicht mehr“, sagte der Mann im Müll und wischte mit einem Zipfel seines Weihnachtsmann-Kostüms ein kleines Guckloch in die Scheibe. „Pfanzen hatte ich dort draußen“, murmelte er nicht ohne Wehmut, „und Feste habe ich gefeiert ... aber sehen Sie selbst!“ Er trat zur Seite, ich öffnete die Tür. Einen Spalt nur, mehr gestatteten die Umstände nicht. Ich zwängte mich ins Freie – und erstarrte. Überall Blumenkübel, in denen Zigaretten ausgedrückt waren, verdurstete Pflanzen, die wie zum Hohn braun und kümmerlich in der trockenen Erde steckten. Vergilbt und festgebacken von der Witterung: monolithische Blöcke ausgelesener Zeitungen. Kippen schwammen trüb im Aschenbecher. Ein leiser Wind trieb kühlen Nieselregen in mein Gesicht. Ich schluckte. An einem gegenüberliegenden Fenster entdeckte ich eine Frau, die fassungslos herüberstarrte.

„Haben Sie“, fragte ich den Mann im Müll, „häufig Besuch?“ Er seufzte. „Nur gute, sehr, sehr gute Freunde. Solche, die mit mir durch Dick und Dünn gehen, auf die ich bauen kann und mit denen gut Kirschen essen ist, solche Freunde ...“ Das Zittern in seiner Stimme verriet mir, dass er keine solchen Freunde hatte.

Der Mann im Müll ist kein Einzelfall.

Der Mann im Müll war belesen und begeistert von seinem Wissen: „In der Antike war Müll ein begehrtes Zahlungsmittel. Die Phönizier verfrachteten Schiffsladungen von Müll im ganzen Mittelmeerraum. Der ‚Mythos Müll‘ geht auf den Gott Moeisos zurück, einem Sohn des Zeus. Man sagt, er habe den Müll geteilt, beim Auszug aus Ägypten. Haben Sie nicht die Spiegel-Serie darüber gelesen?“ Hatte ich nicht.

Der Mann im Müll verdiente sein Geld mit Konzepten für Nachmittagstalkshows, bis er eines Tages ganz von dem Privatsender RTL2 übernommen wurde. Seither ließ er sich für diesen Kanal das gesamte Abend- und Nachtprogramm einfallen. Zusätzlich war der Mann im Müll beteiligt an einigen lukrativen Telefonunternehmen, die sich auf schlüpfrige 0190-Nummern spezialisiert hatten. Über unzureichendes Einkommen, sagte der Mann im Müll, müsse er sich nicht beklagen.

„Sind Sie glücklich hier?“, fragte ich den Mann im Müll. Wir hatten wieder im Wohnzimmer Platz genommen. Die angebotene Tasse Tee musste ich leider ablehnen. Ich hatte das Gefäß gesehen, in welchem der Mann im Müll den Tee zubereitet hatte. „Was ist schon Glück?“ Der Mann im Müll blickte in eine unbestimmte Ferne.

Also versuchte ich es anders: „Wie verbringen Sie eigentlich Weihnachten?“ Da weinte der Mann im Müll. Einsam sei es hier, inmitten all dieses Unrats. Vielleicht werde er einigen Müll in Kisten verpacken, Geschenkpapier darum wickeln und diese Kisten auf der Straße abstellen. Er habe da schon etwas vorbereitet. Irgendwer würde die Kisten schon mitnehmen. Und sich vielleicht sogar freuen. Über eine Schaltanlage für Haushaltsgeräte zum Beispiel, mit deren Hilfe man bequem mit einem Klatschen in die Hände Lampen ein- und ausschalten könne. Oder über eine supereinfache Programmierhilfe – geeignet für jeden Videorekorder. Oder über eine Videosammlung „Die besten Szenen aus Big Brother – erste Staffel“.

Ja, das habe sich hier alles angesammelt, sagte der Mann im Müll. Das könne man alles kaufen. Und er habe es gekauft. Das Solar-Aufladegerät fürs Handy. Die Spezialschuhe mit Spikes unten dran zur Auflockerung des Rasens beim Spazierengehen durch den Garten – durch fremde Gärten, denn der Mann im Müll war gartenfrei. Die elektrische Zahnbürste mit integrierter Mundspülung. Die Super-Nintendo-Konsole mit den Spielen Super Mario Kart und Mortal Combat. Und natürlich diverse Fernbedienungen, deren Endgeräte irgendwo unter den Müllschichten begraben waren.

„Früher“, sagte der Mann im Müll, sei er ja öfter zu seinen Eltern gefahren. Aber da habe es immer nur Streit gegeben. Er solle sein Zimmer aufräumen. Schon damals mochte der Mann im Müll das nicht gerne tun. „Manchmal wache ich noch in der Nacht auf und bin zornig, wenn ich von solchen Situationen träume. Es ist schrecklich. Das verfolgt mich. Wie so vieles andere.“ Da brach es aus dem Mann im Müll hervor: Wie er damals in der Schule von einem gewissen Frank gehänselt worden sei. Wie eine gewisse Julia nicht mit ihm ins Kino gehen wollte. Wie er im Deutschunterricht von seinem Lehrer schikaniert worden sei. Der Mann im Müll heulte und schluchzte. Eine Fruchtfliege kreiste um seinen Kopf.

Ich konnte den Mann im Müll nicht trösten. Niemand konnte das. Außerdem machte ich mir Sorgen um meine Gesundheit. Infektionsgefahr. Ich wollte die Wohnung des Mannes im Müll schnell wieder verlassen.

Zum Abschied bat mich der Mann im Müll, doch noch etwas Müll mit hinunterzunehmen. Diesen Wunsch schlug ich ihm ab. Was hätte das auch für einen Sinn gehabt? Was ist schon eine Kiste Müll – gegen hunderte?

An der Tür drückte mir der Mann im Müll noch ein Geschenk in die Hand: einen Umzugskarton, eingeschlagen in lustiges hellblaues Weihnachtspapier mit Nikoläusen darauf. Ich ahnte, was darin war. Trotzdem konnte ich nicht ablehnen. Da stand der bedauernswerte Mann im Müll, in seinem Weihnachtsmannkostüm, und hielt mir mit herzzerreißender Geste dieses Geschenk hin: „Nehmen Sie, Sie werden es vielleicht nicht brauchen.“ Also nahm ich die Kiste und schleppte sie die Treppe hinab.

„Wissen Sie was?“, rief mir der Mann im Müll noch durchs Treppenhaus hinterher. Ich hielt inne. „Vielleicht räume ich vor Weihnachten noch ein wenig auf. Soll doch alles schön ordentlich sein an den Feiertagen.“ Er klang jetzt plötzlich wieder gefasster, beinahe fröhlich und zuversichtlich. Ich kehrte nicht um.

Unten, auf der Straße, öffnete ich die Kiste. Ihr Inhalt: eine d-box.

STEFAN KUZMANY, 28, ist Redakteur im Schwerpunktressort der taz. Er kommt immer zu spät. Auch an Weihnachten ARNO FRANK, 29, ist taz-Medienredakteur, war auch nicht brav und kriegt nix