... und kehrte als Ballon zurück

Helmut Kohl hält Hof in Dresden – gefüllt mit dem Glauben an seine eigene Größe: Schließlich verkauft sich sein Buch besser als Harry Potter
aus Dresden JENS KÖNIG

Tom Kirsch lächelt. Er steht seit fast drei Stunden leicht gebeugt neben Helmut Kohl und lächelt. Er sieht aus wie der Mafiatyp in einem dieser Bud-Spencer-Filme, der nicht mehr aufhören kann zu grinsen, seit sie ihm als Kind ins Knie geschossen haben. Tom Kirsch ist der Lächler.

Helmut Kohl schreibt ein Autogramm in sein Tagebuch, Tom Kirsch schiebt das signierte Buch über den Tisch zu den Kunden und lächelt sie an. So geht das an diesem Vormittag zehnmal, hundertmal, tausendmal. Stundenlang. Kohl schreibt, Kirsch lächelt.

Es sind schließlich nicht Kohls Bücher, die hier verkauft werden, sondern seine. Tom Kirsch ist der Chef des Buchladens am Ende der Prager Straße in Dresdens Innenstadt. Er hat Helmut Kohl eingeladen, seine umstrittenen Tagebücher über die Spendenaffäre bei ihm im Laden zu signieren, und er wusste, dass er damit das Geschäft seines Lebens machen würde. „Seit einer Woche verkaufen wir den Kohl besser als Harry Potter“, sagt Kirsch.

Tausende wollen Helmut Kohl sehen, dem sie hier in Sachsen nie vergessen werden, dass er ihnen bei seiner legendären Rede am 19. Dezember 1989 vor der Dresdener Frauenkirche das vereinigte Vaterland und die D-Mark versprochen hat. Geduldig stehen sie an. Die meisten haben gleich zwei, drei oder vier Bücher gekauft, um sie sich von Kohl signieren zu lassen. Einige haben ihre Fotoalben mitgebracht, in denen vergilbte Zeitungsausschnitte von 1989 kleben. Eine junge Frau trägt Hunderte Fotos von der Geburt ihrer Tochter unterm Arm. Wahrscheinlich soll Kohl das Mädchen segnen.

Am Ende der Schlange stehen mehrere Bodyguards vom BKA. Jeder Besucher muss sich von oben bis unten abtasten lassen. Die Taschen sind bei den Sicherheitsleuten abzugeben. Es wird kontrolliert wie beim Terroristenprozess in Stammheim. Aber keiner beschwert sich. Nachdem die Leute die Sicherheitsschleuse passiert haben, liegen noch fünf Meter zwischen ihnen und Helmut Kohl. Kohl thront auf einem Podest, drei Stufen über allen anderen. Die Leute müssen zu ihm hochgucken.

Kohl empfängt sein Volk.

Die meisten sind aufgeregt, als sie mit ihren Büchern zu ihm gehen. Einige stolpern die drei Stufen hoch. Viele sprechen mit Kohl. Nach all dem, was in den letzten Monaten passiert ist, hören sich die Worte an, als seien sie unter Folter erpresst worden. Aber die Leute meinen es ehrlich. „Danke, Helmut“, sagen viele. Oder: „Lass dich nicht unterkriegen.“ Ein junger Mann ruft laut: „Du bist und bleibst für mich der Kanzler der Einheit“. Hier schmeißt keiner mit Windbeuteln. Wenn es einer täte, würde er den Buchladen nicht lebend verlassen.

Kohl ist zu Tränen gerührt. Neulich in Berlin sind die Leute doch nur noch gekommen, um ihn zu bestaunen, sie haben ihn berührt und gekichert. Sie sind zu Kohl wie zu einem alten Gorilla im Zoo gegangen. Hier in Dresden ist er wieder der Doktor Helmut Kohl. Der Kanzler der Einheit. Der Staatsmann. Da können die Sozis an schwarzen Kassen aufdecken, was sie wollen.

Kohl schreibt, bis auch der Letzte sein Autogramm hat. Über drei Stunden lang. Als der Kanzler von seinen Sicherheitsleuten zurück durch die jubelnde Menge geschoben wird, verliert Tom Kirsch zum ersten Mal den Überblick. Die ganze Zeit war er an Kohls Seite, er hatte alles im Griff, doch jetzt wird der schmächtige Buchhändler einfach zur Seite gedrängt. Aber er lächelt.

„Das ist die Härte“, sagt Kirsch. Er steht auf der Straße vor seinem Buchladen und lockert seinen schwarzrotgoldenen Schlips. „Seit fünfzehn Jahren bin ich jetzt hier in dem Geschäft, aber das war der absolute Höhepunkt, den wir je hatten“, sagt er, „und je haben haben werden.“ Der Lächler redet jetzt ohne Ende. „So etwas habe ich noch nicht erlebt“, entfährt es ihm. „So etwas habe ich noch nicht erlebt.“

Ein Vertreter des Droemer-Verlages aus München, der Kohl schon seit Wochen begleitet, ist nicht ganz so aufgeregt wie Kirsch. Er ist auch deutlich besser gekleidet als der Sachse. Aber er muss eingestehen, dass er solche Massen bei einer Lesung auch noch nicht gesehen hat. „Dabei hatte ich schon alle Großen hier“, fällt ihm der Lächler ins Wort. „Dschingis Aitmatow, Manfred Krug, Hera Lind ...“ Kirsch trommelt immer weiter, wie der Duracell-Hase in der Werbung: „Der Wickert war da, der Kronzucker, der Simmel ...“ Der Droemer-Mensch aus München unterbricht ihn nur kurz. „Bei mir waren Tom Wolfe und Salman Rushdie“, sagt er.

Arnold Vaatz steht ein paar Meter daneben, aber er denkt gerade nicht an Hera Lind oder Tom Wolfe, sondern an sein großes Idol: an Helmut Kohl. Vaatz, der ehemalige Bürgerrechtler, hat Kohl gerade ins Auto gesetzt und verabschiedet. Die beiden werden sich am Abend vor der Frauenkirche wiedersehen.

Vaatz trägt eine billige Schiebermütze und einen weiten Mantel. Mitten in seinem Gesicht hängt eine große runde Brille. Ihm fehlt nur noch eine Pfeife, dann sähe er aus wie eine perfekte Kopie von Sherlock Holmes. Vaatz ist derjenige, der für den ganzen Auflauf in Dresden verantwortlich ist. Kurt Biedenkopf hatte den zehnten Jahrestag der deutschen Einheit ohne den Spendensammler Helmut Kohl gefeiert, und das ausgerechnet in Dresden. In der Stadt also, von der Vaatz meint, dass sie am 19. Dezember 1989 den Initialakt der deutschen Einheit feierte. Und zwar ausgelöst von dem Mann, den Biedenkopf seit Jahren hasst, aber den Vaatz umso mehr verehrt. „Wer hat denn vor zehn Jahren die Knochen hingehalten?“, fragt Vaatz heute noch ganz erregt, „Kohl oder Biedenkopf?“

Im Sommer plante er mit seinen Freunden vom Kreisverband der Dresdener CDU ein Revival der historischen Rede von vor elf Jahren. Erst trauten sich die Kohl-Anhänger nicht, auf den großen Platz vor der Frauenkirche zu ziehen. Sie wollten lieber das übersichtliche Audimax der Technischen Universität mieten. Aber dann spürten sie die große Resonanz, die ihre Idee in Dresden ausgelöst hatte, und zogen ins Zentrum der Stadt, an den historischen Ort.

Jetzt, am Abend, weiß Vaatz, dass die Entscheidung richtig war. Er schüttelt immer wieder seinen Kopf. „Dieser Andrang“, sagt er, „einfach unglaublich.“ 15.000 Menschen stehen dicht gedrängt auf dem Platz vor der Frauenkirche. Sie halten Plakate hoch, auf den „Dresden sagt Danke“ steht, einige schwenken die Deutschlandfahne. Ein paar Jusos, die groß „Helmut Ehrenwort“ auf ein weißes Plakat geschrieben haben, werden noch vor Beginn der Veranstaltung von der Jungen Union vom Platz vertrieben. „Geht doch nach China!“, rufen sie ihnen hinterher.

Dann kommt er. Die Menschen jubeln. Hel-mut! Hel-mut! Hel-mut! Alles ist wie damals. Die gleichen Leute, die gleiche Stimmung, das gleiche Abendlicht. „Liebe Landsleute“, beginnt Kohl seine Rede. Die gleichen Worte wie 1989.

Nur Helmut Kohl ist anders.

In seinem Buch über die deutsche Einheit hat Kohl notiert, dass die Rede vor der Frauenkirche am 19. Dezember 1989 die vielleicht schwierigste in seinem Leben war. Bevor er in Dresden ankam, wusste er noch nicht einmal, dass er überhaupt eine Rede halten würde. Die sich damals überstürzenden Ereignisse hatten ihm keine Zeit gelassen, sich auf den Besuch vorzubereiten. Aber als er auf dem Flughafen in Dresden landete und das Meer von schwarzrotgoldenen Fahnen sah, war ihm plötzlich klar, dass er zu den Leuten reden musste.

Aber als er später am Tag dann spürte, welche Hoffnungen alle in seine Rede setzten, kamen die alten Versagensängste in ihm wieder hoch. Kohl wusste, dass er kein guter Redner war. Aber am Abend dann war jedes seiner Worte richtig. Mit seiner Rede, schrieb der Kohl-Biograf Klaus Dreher später, gelang es Kohl zum ersten Mal in seiner vierzigjährigen Karriere, eine Menge von mehrerern zehntausend Menschen mit Worten und Gesten zu inspirieren, zu lenken und zu dirigieren.

Elf Jahre später ist davon nichts zu spüren. Das liegt nicht etwa daran, dass Kohls Rede völlig belanglos ist. Kohl ist einfach nicht Kohl. Er spielt nur eine historische Figur, die vor elf Jahren Bundeskanzler war und Helmut Kohl hieß. Schon den Weg zur Bühne vor der Frauenkirche war Kohl heute nicht einfach nur gegangen, wie damals noch. Er schwebte.

Kohl befindet sich den ganzen Abend über in einem anderen Aggregatzustand. Stefan Heym hat diesen Zustand Kohls einmal sehr treffend beschrieben: ein Ballon, gefüllt mit dem Gas des Glaubens an die eigene Größe und Macht. Der Kanzler der Einheit inspiriert nicht, lenkt nicht, dirigiert nicht. Heute Abend ist jedes seiner Worte schief, jede seiner Gesten verwackelt.

Als Kohl seine Rede beendet, brandet Beifall auf. Die Dresdener auf dem Platz vor der Frauenkirche befinden sich jetzt endgültig im Taumel der Erinnerung. Sie jubeln dem Mann zu, der hier vor elf Jahren eine große Rede gehalten hat.

Arnold Vaatz’ Schiebermütze sitzt mittlerweile völlig schief. Er steht neben Helmut Kohl auf der Bühne. „Was lernen wir aus dieser Veranstaltung?“, ruft er ins Mikrofon. „Beim nächsten Mal brauchen wir einen größeren Platz.“

Alle wissen, dass es kein nächstes Mal geben wird. Geschichte wiederholt sich nur einmal.