die stimme der kritik
: Betr.: Die Lindenstraße und die wiedergefundene Zeit

Das Leben ist eine lange, ruhige Fernsehserie

Es war letzten Sonntag, so gegen sieben Uhr, als das Fernsehen mal wieder seine ganze faszinierende Kraft entfaltete. Da hatten wir uns mit Norbert König und Waldi Hartmann endlich in die Winterpause der Bundesliga verabschiedet, verfolgten dann gespannt in Explosiv, warum es Daum und Babs gerade nach Florida verschlagen hatte, und befanden uns plötzlich – Zapper’s Delight – in der Lindenstraße.

Dort waren wir schon länger nicht mehr. Weil die Geschichten immer abstruser wurden und mit unserem Leben nichts mehr zu tun hatten, aber auch des üblichen Abnutzungseffekts wegen. Doch in diesen paar Minuten am Sonntag war alles wieder ganz anders: Momo, diese Karikatur eines 80er-Jugendlichen, eigentlich das Paradebeispiel für den Anachronismus der Serie, steht vor Gericht; dann sein Bruder, der Iffi erklärt, Momo gehe es nicht gut, nach dieser Verhandlung bekäme er wohl doch fünfzehn Jahre. Da bekam man bang vor dem Fernseher sitzend erst das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben, dann aber, sie sei uns zurückgegeben worden – wurde dort doch eine Geschichte verhandelt, die mindestens vor einem Jahr schon ihren Lauf nahm.

Früher hieß es, Lindenstraße könne man nicht gucken, weil man nach ein paar verpassten Folgen den Anschluss verloren hätte. Heutzutage ist es umgekehrt: Man darf gar nicht mehr jede Folge dabei sein, effektiv ist die Lindenstraße nur à la longue. Bedächtigkeit regiert, das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss und die Lindenstraße mittendrin. Sie ist mittlerweile das Gegenmodell zu allen anderen Soaps (wo sich die Ereignisse täglich überstürzen) und auch zu jeder Talkshow und jedem Millionenspiel. Wo es sonst im Fernsehen schnell, bunt und spektakulär zugeht und jeder Depp ein Star sein kann, da holt die Lindenstraße uns wieder zurück ins Leben – weil sie ihre Geschichten in einer Gemächlichkeit erzählt, die identisch ist mit unserem Lebensrhythmus.

Das war am Sonntag fast ein Erlebnis, wie es Marcel Proust am Ende der „Recherche“ hatte, wo er feststellte, dass die in der Kindheit noch so unterschiedlichen und verschlungenen Wege nach Guermantes und Méséglise doch nur ein Weg waren und sich ihm die verlorene Zeit in ihrer Gesamtheit zusammensetzte. Ja, ja, unsere Lindenstraße. Als Marcella schließlich noch zu ihrem Geliebten Fausto sagte „Schieß die Alte ab oder ich verlasse dich“, wussten wir, dass die Lindenstraße auch im nächsten Jahr unsere Zeit und unser Leben rettet. GERRIT BARTELS