Mit dem Dietrich ins Weiße Haus

Das Oberste Bundesgericht der USA macht George W. Bush den Weg zur Präsidentschaft frei – und offenbart sich als zutiefst zerstritten

aus Washington PETER TAUTFEST

Von einem knappen Ausgang der US-Präsidentenwahl 2000 zu sprechen dürfte das Understatement des Jahres sein. Mit einer Stimme Mehrheit sorgte das neunköpfige Oberste Bundesgericht der USA dafür, dass nun wohl George W. Bush am 18. Dezember mit einer einzigen Stimme mehr als den erforderlichen 270 Stimmen im Wahlmännerkollegium zum nächsten Präsidenten gewählt wird. Das Gericht entschied, dass die 25 Wahlmänner des Bundesstaats Florida an Bush gehen, der dort von den abgegebenen 6 Millionen Stimmen – je nach Zählweise – etwas mehr oder weniger als hundert Stimmen mehr bekam als sein Rivale Al Gore.

Wie viele Stimmen die Kandidaten tatsächlich bekommen haben, lässt sich bei dem maroden Wahlsystem der USA nicht mehr feststellen, denn zum genauen Nachzählen bleibt keine Zeit mehr, jedenfalls nicht, wenn Standards angewandt werden sollen, die jedermann Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Strategie des Kandidaten Bush, der landesweit 340.000 Stimmen weniger als Al Gore bekam, war mithin erfolgreich. Sie bestand darin, das Nachzählen von Stimmen vor Gericht anzufechten und diese Klage bis zum höchsten Gericht des Landes zu tragen.

Dabei hat das Gericht, das sich in seinem Urteil auf die auslaufende Zeit beruft, selbst zu dem Dilemma beigetragen. Hätte es weder das erste noch das zweite Urteil des Supreme Court von Florida aufgehoben, das Fairness über Prozedur stellte, wäre gezählt worden. Amerika und die Welt wüssten heute, wer in Florida wirklich gewonnen hat. So wird es die Welt erst erfahren, wenn Bush schon regiert, und es ist nicht ausgeschlossen, dass sich dann herausstellt, dass Gore nicht nur im ganzen Land, sondern auch in Florida die Mehrheit der Stimmen gewonnen hat. Ins Weiße Haus wird also sehr wahrscheinlich jemand einziehen, der nicht die Mehrheit aller abgegebenen Stimmen erhalten hat. Das soll Demokratie sein.

„Niemand ist sich der Grenzen der Autorität des Rechts stärker bewusst als wir“, heißt es in der 65-seitigen Urteilsbegründung des hohen Gerichts, das mit fast so vielen Stimmen spricht, wie Richter auf der Bank sitzen, „und niemand hat größere Bewunderung für die Bestimmungen der Verfassung, die die Wahl des Präsidenten dem Volk – vermittelt durch seine Landesparlamente – und der politischen Sphäre überlässt.“ Da aber die Parteien das Gericht nun einmal angerufen hätten, habe dieses Gericht nicht anders handeln können als einzugreifen, schrieb die Mehrheit des Gerichts. Eingegriffen hat es, und entgegen der Tradition von Urteilen, die amerikanische Rechtsgeschichte gemacht haben, sprach dieses Gericht dabei nicht mit einer Stimme. Mit der äußerst knappen Mehrheit von fünf zu vier Stimmen, die sich genau an den Parteilinien festmachen ließen, entschied das Gericht lapidar, dass es für verfassungskonforme Handauszählungen zu spät sei.

Der Supreme Court äußerte sich in einem widersprüchlichen und dissonanten Chor von Stimmen und Gegenstimmen, von denen einige mit dem Supreme Court schärfer ins Gericht gehen, als jede Urteilsschelte von außen es hätte tun können.

„Die Zeit wird eines Tages die Wunden heilen, die unsere heutige Entscheidung dem Rechtsvertrauen des Volkes zugefügt hat“, schrieb der 80-jährige, weißhaarige John Paul Stevens in seiner abweichenden Stellungnahme: „Eines aber ist sicher: Obwohl wir nie mit letzter Sicherheit werden sagen können, wer der Gewinner der diesjährigen Präsidentenwahl ist, der Verlierer steht eindeutig fest: Es ist das Vertrauen der Nation in den Richter als unparteiischen Hüter des Rechtsstaats.“

Schärfer noch formulierte Ruth Bader Ginsburg, die von Clinton ernannte Richterin, das Mehrheitsurteil. Die Feststellung, dass die Zeit für verfassungskonformes Handeln abgelaufen sei, nannte sie eine „nicht überprüfte Prophezeiung“. Und: Seit der Zeit, da Bundesgerichte zur Durchsetzung der Bürgerrechte im Süden Amerikas Landesgerichtsurteile niederschlugen, hat das Oberste Bundesgericht nicht mehr derart massiv in die Belange eines Bundeslandes und seines Obersten Gerichts eingegriffen. Und das nicht zur Ausweitung von Grundrechten, wie Richter Stephen Breyer in seiner eigenen abweichenden Stellungnahme schreibt, sondern zu deren Einschränkung. Im Lichte dessen, was während der letzten Wochen und bei den Verhandlungen vor dem Supreme Court nicht nur über Floridas Art, zu wählen und zu zählen, bekannt wurde, könne ein Nachzählen der Stimmen schwerlich zu einem weniger fairen Ergebnis führen als die Abgabe der Stimmen selbst.

Als lächerlich weist der von Clinton ernannte Breyer den Vorwurf zurück, ein Nachzählen mit unterschiedlichen Standards würde bestimmte Wähler gegenüber anderen benachteiligen: Bei dem herrschenden Durcheinander von Wahlverfahren seien manche Wähler schon benachteiligt, wenn sie zur Urne kämen. Ihre Stimme habe weniger Chancen, gezählt zu werden, als andere.

„Der knappe Wahlausgang hat ein Schlaglicht auf ein bisher wenig beachtetes Problem geworfen“, schrieb das Gericht; „landesweit werden ungefähr 2 Prozent der Wahlzettel für ungültig erklärt, weil sie keine Wahl für den Präsidenten registrieren; das summiert sich auf 2 Millionen ungezählte Stimmen.“ Besonders hoch ist der Wahlzettelausschuss in Wahlkreisen, in denen das desaströse Lochkartensystem verwandt wird. Die Parlamente des Landes werden sich dieses Problems annehmen müssen, mahnte das Gericht. In der verbleibenden Zeit aber lasse sich daran nichts ändern, heißt es in dem Urteil.

Das Urteil übergibt letztlich Bush den Schlüssel zum Weißen Haus. Der Zweifel an der Legitimität seiner Herrschaft, den die einstweilige Verfügung vom vergangenen Samstag nach den Worten Richter Scalias vertreiben sollte, nagt jetzt nicht nur am künftigen Präsidenten, sondern auch am höchsten Gericht selbst. An seinem Sieg dürfte Bush wenig Freude haben. Al Gore hingegen verschafft das Urteil einen Abgang als Märtyrer. Märtyrer sind demokratischen Regierungen allerdings nicht dienlich. Der eigentliche Verlierer der Wahl und die unterlegene Partei in diesem Rechtsstreit ist Amerikas Demokratie.