Wenn Sokrates eine Frau gewesen wäre

Zu ihren Lebzeiten wurde sie verspottet und als Hure karikiert: Marie de Gournay, die erste Feministin der Neuzeit. Bekannt machte sie ihr Traktat „Über die Gleicheit von Frauen und Männern“. Zudem gab sie die Werke Michel de Montaignes heraus. Eine lesenswerte Biographie von Brigitte Rauschenbach

Michel de Montaigne, den Schöpfer der Essais, kennen viele. Aber was ist mit seiner geistigen Freundin Marie de Gournay, der Frühfeministin und späteren Herausgeberin seiner Werke? Zu Lebzeiten wurde sie verspottet und als Hure karikiert, später vergessen. Erst in neuerer Zeit widmeten Montaigne-Forscher der streitbaren Intellektuellen eine gewisse Aufmerksamkeit, wenn auch nicht immer eine positiv gestimmte. Nun hat die Berliner Philosophin und Geschlechterforscherin Brigitte Rauschenbach in ihrem Buch „Der Traum und sein Schatten“ Marie de Gournays Wirken nachgezeichnet. Herausgekommen ist eine passagenweise etwas wirre, insgesamt aber spannende und lesenswerte Studie über eine Person, deren Tragödie darin bestand, dass sie ihrer Zeit weit voraus war.

Aber war nicht auch Einstein seiner Zeit voraus? Oder Montaigne selbst? Oder Sokrates? Sicher. Aber: „Wenn Sokrates eine Frau gewesen wäre“, schrieb Marie de Gournay in ihrem Roman Proumenoir, dann hätte er nicht Sokrates sein können, sondern nur Skandal gemacht.

Mit solchen Sätzen und mit ihren späteren Traktaten „Über die Gleichheit von Frauen und Männern“ sowie „Klage der Frauen“ machte sich Gournay zur ersten Feministin der Neuzeit. „Glücklich bist du, Leser,“ formulierte sie Anfang des 17.Jahrhunderts, „wenn du nicht zu dem Geschlecht gehörst, dem man alle Güter untersagt hat, indem man ihm keine Freiheit zubilligt und ihm darüber hinaus alle Tugenden abspricht, dadurch dass man es von der Macht abschneidet, bei deren Ausübung sie sich überhaupt erst bilden, um ihm dann als einzige Tugend und einziges Glück die Unwissenheit und das Leiden zu lassen.“ In modernen Worten: Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht. Marie de Gournay wagte ihre Thesen vom historischen Werden der Geschlechterrollen zu formulieren, als noch in halb Europa Hexen verbrannt wurden, als noch nicht einmal die Humanisten die Natur der Weiblichkeit und die Weiblichkeit der Natur anzuzweifeln wagten.

Marie le Jars de Gournay wurde 1565 in Paris geboren. Als elf Jahre später der Vater starb, ein Schatzmeister am königlichen Hofe, zog sich die Mutter mit ihren sechs Kinder auf Schloss Gournay-sur-Aronde in der Picardie zurück. Der verarmten Familie fehlten die Mittel, um die begabte älteste Tochter zu fördern. Mit 18 oder 19 fielen der zu Hand- und Hausarbeit gezwungenen Autodidaktin Montaignes Essais in die Hände – eine geistige Offenbarung. Wenig später lernten sich die beiden in Paris kennen, auf Einladung von Mutter und Tochter weilte der damals 55-jährige dann zwei bis drei Monate auf Schloss Gournay bei seiner fille d‘alliance. „Ich habe bei verschiedenen Gelegenheiten gern kund getan“, bilanzierte er seine neue geistige Freundschaft, „welche Hoffnung ich in Marie de Gournay le Jars setze, die ich in geistiger Verbundenheit als Tochter angenommen habe und gewiss mehr als väterlich liebe und als einen der besten Teile meines eigenes Wesens in meine Zurückgezogenheit und Einsamkeit hinein nehme.“

Schon vier Jahre später, 1592, starb Montaigne. Seine geistige Tochter aber hat bis an ihr eigenes Lebensende seine Werke editiert und zum Teil mit eigenen Vorworten versehen. Nicht wenige männliche Montaigne-Forscher werfen ihr vor, sie habe ihre eigene Person betreffende Passagen in den Essais verfälscht, weil sie Karriere machen wollte.

Was für eine Karriere? Als Frau konnte sie nicht studieren, keinen Beruf erlernen und kaum eigenes Geld verdienen. Über Jahrzehnte hinweg musste sie einen harten Überlebenskampf geführt haben, denn zwischen ihren Früh- und Spätschriften liegt eine lange Schaffenspause. Und immer wieder musste sie sich zweideutige Schmähungen anhören, sie sei eine öffentliche Frau, die ihrem Publikum „immer zu Diensten gewesen“ sei, sie sei eitel und hässlich. Die einzige direkte öffentliche Reaktion auf ihr 1622 veröffentlichtes „Traktat über die Gleichheit von Frauen und Männern“ war eine Satire, in der ein anonymer Verfasser das Geschnatter der um eine Wöchnerin versammelten Weiber belauscht.

Eine dieser fiktiven Frauengestalten beschreibt, wie Marie de Gournay nackt im Bade ihr Gleichheitstraktat zitiert. Nackt die Gleichheit fordern! Das ganze 17. Jahrhundert muss sich die Männergesellschaft auf die Schenkel geklopft haben vor Vergnügen. Wenn Marie de Gournay ein Mann gewesen wäre...

UTE SCHEUB

Brigitte Rauschenbach: „Der Traum und sein Schatten. Marie de Gournay und ihre Zeit.“ Ulrike Helmer Verlag, 2000, 247 Seiten, 48 Mark.Für Weihnachten gibt es dazu noch: Michel de Montaigne: „Essais“. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, 640 Seiten, 148.- DM, oder in Auswahl als Doppel-CD, gelesen von Otto Sander“. Beides Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 2000, 49,80 DM