Die Würde des Dargestellten

Raymond Depardon begann als Paparazzo und Kriegsreporter. Doch seine Erfahrungen lehren ihn, mit der Kamera nicht einfach draufzuhalten, sondern sein Gegenüber zu suchen. Das Maison Européenne de la Photographie in Paris zeigt eine Retrospektive zur Arbeit des Magnum-Fotografen

von HARALD FRICKE

Brigitte Bardot im Negligée, Catherine Deneuve als Mannequin – für einen jungen Fotografen war Paris in den Fünfzigerjahren durchaus ein Fest fürs Leben. Gerade wenn er vom Lande kam, wie Raymond Depardon. Für den inzwischen 58-jährigen Fotografen ist aus dieser Schwärmerei eine Profession geworden, die ihn 1978 zur Bildagentur Magnum brachte. Seine Dokumentar- und Spielfilme wurden in Cannes gezeigt, eine Auswahl seiner Fotos ist derzeit im Pariser Maison Européenne de la Photographie zu sehen. Sie sind Belege einer wechselhaften Karriere: erst Paparazzo, dann Kriegsreporter, schließlich Autor von komplexen Bildgeschichten, die Depardon heute lieber nicht ausstellt, sondern nur in Buchform präsentiert. Weil das Buch, wie Jacques Rancière im Katalog zu „Détours“ schreibt, „mehr als nur eine Ansammlung von Images ist“ – ein geschlossenes Universum, ein Weltbild.

En détours, auf Umwegen also, hat Depardon seine Beziehung zur Fotografie gefunden. Bilder gemacht hat er indessen schon mit zwölf Jahren. Voller jugendlicher Begeisterung sammelt er Schnappschüsse auf dem Bauernhof der Eltern in Villefranche-sur-Saône. Doch die Szenen aus den frühen Fünfzigerjahren sehen schon wie Notizen zu einem durchkomponierten Spielfilm aus: Übermütig turnen Kinder im Apfelbaum, müde sitzt der Vater abends beim Rotwein, nachdem er den Acker gepflügt hat. Sonntags macht sich Depardons großer Bruder fein und posiert mit Stock und Hut im schwarzen Anzug vor dem Stall, ganz Bohemien unter Bauern.

Dreißig Jahre später war Depardon noch einmal zu Besuch auf dem Anwesen der Eltern. „La Ferme de Garet“ mischt die schwarzweißen Bilder aus dem Familienalbum mit Farbfotos von 1995, auf denen verlorene Kühe im Morgennebel auf der Wiese stehen. Die alten Depardons können den Hof nicht mehr bewirtschaften, bald wird es in dieser Gegend keine Bauern mehr geben, vermutet Raymond Depardon: „Gestern war es noch Land, heute ist es die Peripherie der Stadt. Und morgen?“

Die Bilder täuschen dabei keine nachträgliche Nähe zu dem Leben vor, das der Fotograf hinter sich gelassen hat. Ohne Melancholie betrachtet Depardon den Verfall aus einer gewissen Distanz, aber voller Anteilnahme. Immerhin hat er den Stillstand noch an anderen Plätzen gesehen, im zerstörten Beirut, in den Wüsten des Tschad oder auf den Straßen von Bukarest. Als er 1978 im Libanon war, wurden die Häuser zerschossen, in deren Ruinen er zwanzig Jahre später verbrannte Sofareste wiederfinden konnte. Die Trümmer der Geschichte häufen sich nicht, sie bleiben einfach verstreut liegen.

Überhaupt hat der Fotograf gelernt, mit Widersprüchen zu leben. Als 1997 Prinzessin Diana mit Dodi al-Fayed auf der Flucht vor Bildreportern umkam, war es Depardon, der auf dem Recht des Fotografen bestand, Wirklichkeit abzubilden – auch die der Schönen und Reichen. Wenn die Öffentlichkeit sonst nämlich hungernde Kinder in der Sahel-Zone sehen will, um sich vom Gefälle des Reichtums in der Welt zu überzeugen, wenn Bürgerkriege in Bilder von Massengräbern münden, dann ist die Fotografie kein Mittel zum Zweck, sondern immer wesentlicher Bestandteil von Aufklärung.

Depardon weiß, dass er sich mit seiner Vorstellung vom Auftrag der Fotografie auf einem unwegsamen Gelände bewegt. Sein eigener Werdegang ist von Ambivalenzen überlagert. Als er 1960 bei der Agentur D’Almas anfängt, hat er Paris bereits drei Jahre lang für die Boulevardzeitungen nach Klatsch und Skandalen abgesucht. Mit Kunst haben diese Jobs nichts zu tun. Depardon versteht sein Geschäft als Abenteuer: Der Fotoreporter überlebt nicht in seinen Bildern, er lebt von ihnen. In Algerien interessiert er sich beim Training der französischen Armee für die ausgezehrten Soldatengesichter und nicht für den Krieg, den Frankreich gegen die algerische Bevölkerung führt. Selbst als er in Kolumbien fürs französische Fernsehen Unruhen filmt, sieht man nur aufgebrachte Massen und blutverschmierte Leichen.

Doch allmählich kommen ihm Zweifel an seiner Mission: Ist die Wirklichkeit der Kolonialkämpfe, die er in Afrika fotografiert, tatsächlich mit den Schockmeldungen auf Seite eins der Gazetten identisch? Depardon erkennt, dass seine Fotos nur illustrieren, was der Text verlangt. Um nicht dermaßen von Angebot und Nachfrage in Sachen Images abhängig zu sein, gründet er mit Gilles Caron die eigene Agentur Gamma. Aber am Prozedere ändert sich zunächst nicht viel: Im Dienstplan von 1970 steht eine Reportage über Prostitution auf St. Pauli, gefolgt von einem Termin in Kambodscha. Caron kommt von dieser Reise 1970 nicht zurück. Er wird eines der vielen Opfer des Krieges, „gefallen auf dem Ehrenfeld des Journalismus“, wie es im Nachruf von Le Soir vom 28. 4. 1970 heißt.

Von diesem Moment an ist Depardon ein anderer Fotograf; einer, der nicht nach Ruhm und Ehre, sondern nach Würde sucht – vor allem der des Dargestellten. In Chile begleitet er den Aufbruch unter Salvador Allende und schreibt seinen Eltern nach Hause, wie sehr er die chilenischen Bauern für ihre Überzeugung schätzt. Diese Einstellung sieht man auch den Aufnahmen an, die als eine von neun Serien in Paris hängen. Die Personen sind zurückgezogen im Halbdunkel ihrer karg eingerichteten Häuser fotografiert – statt Intimität und Folklore erblickt man skeptische Gesichter, die den Reporter kaum an sich herankommen lassen, während sie in der Zeitung El Rebelde lesen. Depardon hält die Kamera nicht mehr auf Objekte drauf, sondern sucht sein Gegenüber. Offenbar mit Erfolg: Für die Chile-Bildreportage erhält Depardon die Robert-Capa-Medaille.

Der Aufenthalt im italienischen San Clemente wird 1980 zum größten Einschnitt in Depardons Biografie. Mehrere Monate besucht er Insassen einer Psychiatrie in der Nähe von Venedig, um einen Film über die bevorstehende Öffnung der Irrenhäuser in Italien zu drehen. Depardon scheint als einigermaßen Gleicher unter Gleichen zu filmen. Trotz der Enge der Räume, in denen die Patienten aufeinander kauern, gelingt es ihm, seinen Bildern Offenheit zu geben: Einsam stehen alte Männer auf dem Flur, sprechen ihn plötzlich an, machen ein paar Witze und verabschieden sich wieder. Die unmittelbare Teilhabe am Geschehen spiegelt sich auch in Depardons Kommentaren: Als er das Gefühl hat, nur mehr „wie ein Techniker ohne Empfindungen zu arbeiten“, verlässt er San Clemente auf der Stelle.

Die Bildfolge aus der Psychiatrie steht mit einer Fotoserie aus den USA im Zentrum der Ausstellung. 1981 war Depardon für ein Projekt mit Libération in New York. Jeden Tag schickte er ein Foto mit einer kommentierenden Unterzeile, das auf einer halben Auslandsseite der Zeitung abgedruckt wurde. So sieht man kleine Mädchen in der Bronx spielen, nachdem die Polizei kurz zuvor das Viertel für einen Politikerbesuch abgeriegelt hatte; oder man schaut vom Waschbecken im Büro der New York Times auf die Wolkenkratzerdächer an der Wall Street.

Die kurzen Texte sind in jenem Tagebuchstil gehalten, mit dem Depardon seither fast alle Fotostrecken beschriftet. Was man dort liest, erklärt die Bilder kaum. Aber es schärft den Blick für das Dargestellte: Dann überträgt sich die Müdigkeit, von der Depardon schreibt, wenn er Ende der Achtzigerjahre mit Rebellen in Afghanistan durch das Gebirge marschiert, schlagartig auch auf die schwer vermummten Männer mit ihren Maschinengewehren. Und auf den Krieg, in dem sie sich befinden.

Bis 4. 2. 2001, Maison Européenne de la Photographie, Paris. Der Katalog ist in der Edition Seuil erschienen und kostet ca. 60 DM.