Gesehen, gelesen, beiseite gelegt

Blätterrauschen zum Jahresende: Die obligatorischen Weihnachts- und Neujahrsgrußkarten landen meistens im Papierkorb. Dabei geben sich vor allem Architekten und Designer größte Mühe, sie ebenso individuell wie aufwendig zu gestalten

von MICHAEL KASISKE

Kurz nach dem Jahreswechsel werden sie immer in den Müll geworfen, die Weihnachts- und Neujahrsgrüße. Wie ein Blätterrauschen begleiten die papierenen Objekte den Ende November einsetzenden Feststurm, der Heiligabend und zu Neujahr seine Höhepunkte erreicht, und erst zu den Heiligen drei Königen am 6. Januar abebbt. Die flüchtigen Karten: Gesehen, gelesen, vielleicht kurzfristig präsentiert – selten jedoch verwahrt, obwohl sie manchmal schön gestaltet und zuweilen auch aufwendig angefertigt sind.

Abgesehen von den geläufigen Banalitäten in Rot-Gold-Grün gibt es überraschend eindrucksvolle Objekte, wenn beispielsweise der kreative Sprung von der permanenten Arbeit zum ephemeren Weihnachtsgruß gelungen ist. Die britischen Architekten Alison und Peter Smithson etwa kultivierten die Gestaltung der „Greetings of the Season“ entsprechend ihres professionellen Wirkens: In den Fünfzigerjahren schlug sich ihre Formel des puristischen „as found“ zur Freude ihrer Kinder in der Wiederverwendung alter Stempel oder Holzstöcke auf Papier nieder; in den Siebzigern drückten Collagen oder das Spiel mit Schriften ihr „konglomerates Denken“ aus. Als Grundlage wurde stets ein angenehm zu fassendes Papier ausgewählt, das den Empfänger auch spüren ließ, dass die Absender ihm zum Jahresende ein wohlwollendes Andenken widmeten.

Ganz anders verläuft die Zeit der Vorbereitungen: In der Regel ist nämlich Weihnachten noch gar nicht in Sicht, da spießen den Menschen allerorten – ob der allgegenwärtigen Lebkuchen und Spekulatius, Lichterketten, Leuchtsterne, Glockengeläute und Gesänge – bereits die Tannenzweige im Hirn. Die viel beschworene Besinnlichkeit weicht angesichts unzähliger Weihnachtsfeiern in allen erdenklichen sozialen Zusammenhängen einem profanen Trott. Warum sich also obendrein noch mit Weihnachts- und Neujahrsgrüßen belasten?

„Die traditionelle Weihnachtskarte stellt eine Umwelt dar, die jetzt so sein könnte: Unzerstörbarer Friede; ein erfüllender Grad an Zufriedenheit; auf den Straßen wohltätige und freundliche Menschen; keine Gefahr durch den Verkehr; willkommende Wärme drinnen“, schrieb die 1993 verstorbene Alison Smithson, und zog daraus den Schluss: „eine Kombination, die man nur ein oder zweimal im Leben erfährt“.

Der Nachdruck solcher Glückbezeugungen liegt in der Verbindung der kontemplativen Feiertage mit der ausgelassenen Feier zum Jahreswechsel. Die Übereinstimmung von Weihnachts- und Neujahrsgrüßen stammt aus vorchristlicher Zeit, als bereits zur Mittwintersonnenwende das neue Jahr begonnen wurde. Die beiden nun sieben Tage voneinander getrennten Feste sind seit dieser Zeit so genannte Lostage und -nächte – Zeitpunkte, deren Atmosphäre als bestimmend für den Blick in die Zukunft verstanden wird.

Die neue britische Enzyklopädie nennt als Erste für den Konsum produzierte Christmas-Card ein Stück von 1843, das in einer Auflage von 1.000 Exemplaren vertrieben wurde. Doch die Tradition ist älter. Die frühesten Neujahrswünsche, zu sehen im British Museum, gehen ins 15. Jahrhundert zurück, selbstverständlich ausschließlich mit christlichen Motiven bestückt. Erst ab dem 19. Jahrhundert werden erste weltliche Abweichungen gewagt. In Deutschland sind von dem Künstler Adolph Menzel satirische Neujahrsgrüße von 1830 bekannt.

Die Motive der Smithsons sind eher stimmungsvoll und zeugen von einer unbekümmerten Lust an der Gestaltung. Auf einer Karte ist in eine große naturalistische Girlande die Zahl 1975 und das Wort „Christmas“ integriert, in deren Mitte ein geschmückter Turm steht; das leicht marmorierte Papier wurde mit „Blue Jeans Colour“ teilweise eingefärbt und mit silberblauem Glitter bestreut. Auf einer anderen, gefalteten Karte wird der in dem Jahr errichtete Anbau einer kleinen Veranda zum Wald transformiert, indem die Stützen wie Baumstämme und die Fensterstreben wie deren Äste dargestellt werden.

Die Motive der geläufigen Karten sind dagegen meist christlicher Natur – die gesamte Staffage mit Posaunen blasenden Engeln, den Heiligen drei Königen, Hirten und Vieh wird aufgeboten, wie auch Verweise auf die Jahreszeit mit Schlitten- und Jagdszenen, oder auch regionale Motive, wo sich dann Bethlehem etwa unverhofft als beschauliches Niedersachsendorf geriert. Die Darstellung hat durch die Jahrhundert eigene, unrealistische Formen gefunden, so auch die Krippenszenerie, welche Alison Smithson eher an die Marktstände auf den Christkindlmärkten erinnerte als an einen realen Viehstall. Anders als Geschäftsgrußkarten, die Produkte oder Projekte des Absenders in den Vordergrund stellen, sind die persönlichen, auf Papier niedergelegten Wünsche haptische und visuelle Stücke, denen eine ganz andere Gegenwart innewohnt als dem rasch vergänglichen Telefonat oder der virtuellen E-Mail.

Ein persönliches Motiv, ungewöhnliches Material, geschickte Faltungen, ein paar freundliche Worte: Die Jahresendzeitdrucksachen – wie die der Smithsons – verstanden als Freundlichkeit im Brechtschen Sinn, die „wie ein wohliger Seufzer entschlüpft“, ist eine unspektakuläre, im Umschlag an ein verpacktes Geschenk erinnernde Formel, sich die eigenen Freunde – und gleichzeitig sich bei ebendiesen Freunden – wieder ins Gedächtnis zu rufen.