Leben in der Pickelwüste

Auf dem Weg in die ewige Jugend sind Windpocken von unschätzbarem Wert

Die Anwesenheit pädagogisch versierter Mitmenschen lässt sich nicht immer vermeiden. Es ist dann mit Sätzen zu rechnen wie: „Kinder haben uns viel zu geben, wenn wir uns nur intensiv auf sie einlassen.“ Das stimmt. Mein Neffe hat mir eine Ladung Windpocken-Viren abgegeben. Diese lustigen Gesellen verwandelten meinen Körper in eine Pickelwüste, und pädagogisch weniger versierte – sprich: uneinfühlsame, rabaukenhafte – Mitmenschen fragen mich seitdem, ob ich aufs Neue den Weg durch Kindergarten und Schule starten wolle, da ich mit meinen 34 Jahren ja offensichtlich einen Hang zu längst überwunden geglaubten Zeiten entdeckt habe. Haha, sehr lustig ...

Das klingt auf den ersten Blick verblödet, ist aber dann gar nicht mal so abwegig. Denn: Hatte ich mich bislang für einen relativ erwachsenen Menschen gehalten, so stelle ich mit fortschreitendem Krankheitsverlauf infantile Züge an mir fest. Kein Wunder: Ich fühle mich hervorragend, darf aber wegen der Infektionsgefahr nicht raus zu den anderen. Das zehrt an den Nerven; ich werde allmählich quengelig. Und weil keine besorgte Mutter um mich herumschwirrt, muss ich mich notgedrungen selbst maßregeln: Nun steh schon auf! Putz dir die Zähne! Iss ein bisschen! Das sind Sätze, die ich bisher von mir nicht kannte. Setz dich an den Computer und schreib eine Glosse! Huch, da war es wieder.

Mein Neffe durfte (oder brauchte? – keine Ahnung, wie der das sieht) zwei Wochen nicht in die Schule – ich darf (muss?) zwei Wochen lang nicht meiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Zu den Dingen, die Leute mit Windpocken uneingeschränkt dürfen, zählt das Fernsehen. Und wieder wird eine erstaunliche Parallele sichtbar zwischen dem Empfinden des windpockigen Kindes und dem des windpockigen Erwachsenen: das Sich-hingezogen-Fühlen zu wunderbar anspruchsloser TV-Kost. Was soll ich „Report“ aus Baden-Baden gucken, wenn die „Sesamstraße“ bunter und witziger ist, und da tauchen auch nicht so itze-bitze-bumme Politiker auf. Nur das Prinzip von „Big Brother“ verstehe ich partout nicht. Geschenkt. Am allerschönsten ist es jedoch, durchs Treppenhaus zu laufen und Leute zu erschrecken: Wir haben hier sechs Mietparteien, darunter eine Blockwart-Rentnerin, die auf ein knapp 70-jähriges, noch (!) pockenfreies Leben zurückblickt. Wie gesagt: noch. So was ändert sich schnell.

Ab und zu rufen Freunde an und fragen, wie es mir geht. Bloß vorbeischauen will keiner, die haben nämlich alle Angst, sich anzustecken. Und wenn man Freunde hat, die feige sind, muss man das Bier und die Salzstangen alleine vertilgen. Der einzige, der sich her traut, ist ein Kollege bei der Lokalzeitung, von dem hier in unserer Stadt drei Ärzte und eine Krankengymnastin leben und der schon alle Krankheiten hatte, wirklich alle. Windpocken-Viren machen dem nichts aus. Außerdem ist er ziemlich dick und kann deshalb nicht so viel von meinen Salzstangen wegessen, sonst platzt er wie gestern der Bär in dem Trickfilm im Kinderkanal. Da habe ich vielleicht gelacht.

Um keinen falschen Eindruck zu erzeugen: Außer dem Bier und den Salzstangen habe ich noch sooo viel zu geben – wenn man sich nur intensiv auf mich einlässt. Was ich zurzeit aber niemandem raten würde.

ANDREAS MILK