Aus dem Kino in die Kolchose

Von der Sowjetunion lernen heißt überzeugen lernen: Die Vortragsreihe „Triumph der Bilder“ in der Urania fragt, wie deutsch der deutsche Kulturfilm zwischen Hirschkäfer und Hakenkreuz wirklich war

von PHILIPP BÜHLER

Früher, in der Schule, waren Filme wie „Im zauberhaften Reich der Weinbergschnecke“ eine leidlich willkommene Abwechslung. Sie stammten gemeinhin von der GWU (Gesellschaft für Wissenschaft und Unterricht), aber wir nannten sie „Eulenfilme“ – weil im Abspann immer eine Eule abgebildet war. Die Eule war klug, und ihre Filme konnte eigentlich keiner leiden. Am Schluss wurden allerdings die Lehrer regelmäßig dazu gezwungen, die Filme rückwärts laufen zu lassen. Was jenseits autoritärer Wissensvermittlung die eigentliche Attraktion darstellte.

Noch früher war das alles anders. 1911 wurde auf den Jahrmärkten „Fütterung der Riesenschlangen“ aufgeführt. Wenn da eine Kobra drei lebende Karnickel verschlang, nannte man das „Kino der Attraktionen“, und die Leute hätten dem grausigen Spektakel stundenlang zusehen können. Der Film ging aber nur drei Minuten. – In den Zwanzigerjahren wanderten die Lehrfilme ins Vorprogramm der Kinos und wurden anspruchsvoller. Der „Kulturfilm“ wurde protegiert als wissenschaftsverherrlichendes Antidot zum „Schundfilm“.

Schon 1921 bot „Der Hirschkäfer“ die ersten mikroskopischen Aufnahmen, und siehe da: Auch der sozialdarwinistische Ton wurde deutlicher. Als die Nazis 1935 wieder zwei Hirschkäfer in den Kampf schickten („Das Erbe“) und ein kluger Professor seine Assistentin darüber aufklärte, dass im Leben eben alles Kampf sei, fiel das schon keinem mehr auf. Zurückspulen ließ sich da nichts mehr.

Solche Entwicklungen zeigt ab heute die Vortagsreihe „Triumph der Bilder – Vom Hirschkäfer zum Hakenkreuz“ in der Urania. Spannend ist dabei der internationale Vergleich mit Ländern wie der Sowjetunion, den USA, Großbritannien oder Frankreich. Denn selbst Leni Riefenstahls Reichsparteitagsfilm „Triumph des Willens“, Paradebeispiel für die Nähe des deutschen Kulturfilms zur Nazipropaganda, folgt in vielem internationalen Genrekonventionen. So wie Riefenstahl auf Beschäftigungsprogramme und Autobahnbau abhob, verherrlichte der unabhängige Filmer Pare Lorentz in den USA Roosevelts New Deal. Freilich mit den besseren Argumenten.

„The River“ zeigte die verheerenden menschengemachten Überschwemmungen im Mississippi Valley, um dann die Aufbauleistungen der US-Regierung zu würdigen. Die Lösungskompetenz lag allemal beim Staat. Der Film lief sehr erfolgreich als Vorfilm zu Disney’s „Schneewittchen und die sieben Zwerge“. In Großbritannien stilisierten indes Pioniere wie John Grierson Arbeiter, Fischer und Postbeamte zu kleinen Helden des Alltags. Doch sie blieben Rädchen im System effizienter Produktionsabläufe – ein gelungener Vorlauf für die spätere Kriegspropaganda. In Deutschland hatte sich die Ufa von sozialen Themen längst abgewandt und war in die Wissenschaft geflüchtet – ohne zwangsläufig Propaganda zu machen.

In Rhythmus und Rhetorik waren die anglo-amerikanischen Produktionen den deutschen meist überlegen. Alberto Cavalcantis „Coal Face“ etwa beschäftigte den Komponisten Benjamin Britten und den Dichter W. H. Auden. Alle aber lernten von der großen Sowjetunion. Hier traf modernistische Ästhetik auf veraltete Anthropologie: Vollendet endlich den Bau der Eisenbahn für die rückständigen Völker der Steppe! Auch der Stalinismus erblickte das revolutionäre Potenzial vor allem bei sich selbst.

Dafür machte die Sowjetunion eine Entwicklung vor, die das Schicksal des Kulturfilms nach dem Krieg bestimmen sollte: Raus aus den Kinos, rein in die Gesellschaft. In die Arbeitervereine, Kolchosen und Kollektive. In Deutschland führte der Weg bekanntermaßen in die Schule, wo einige Filme der Dreißiger, nach Entfernung der Hakenkreuze, noch über zwanzig Jahre weiterliefen.

Ob der belehrende Ton des Kulturfilms nun eine deutsche Eigenart ist und was genau ein Kulturfilm überhaupt sein soll, soll in der morgigen Abschlussdiskussion geklärt werden. Bis dahin gibt es kluge Vorträge von Experten wie Thomas Elsaesser und Brian Winston. Und Vergnügliches wie Luis Buñuels zynischen Antidokumentarfilm über „Las Hurdes“, ein total rückständiges Bergvolk. Biologische Poesien über Vampire und Seepferdchen. Und Hirschkäfer. Immer wieder Hirschkäfer.

Vorträge heute u. morgen, 10–18 Uhr, Filmvorführungen heute u. morgen,20–22.30 Uhr. Urania, A. d. Urania 17