Das Hinterteil des Tigers

Besuch bei einem chinesischen Experten

von GABRIELE GOETTLE

Zhou Chun, em. Prof., eh. Gründungsdirektor d. Forschungsseminars f. Komparatistik a. Institut f. Fremdsprachige Literatur d. Univ. Schanghai, Gastprofessor a. versch. deutschen Universitäten. Mitglied d. Intern. Vereinig. f. deutsche Sprache u. Literaturwissensch., d. China-Forschungsgesellsch. f. deutschspr. Literatur, d. Neuen Gesellschaft f. Literatur e. V. Berlin. 1944 verließ er, achtzehnjährig, sein Elternhaus, um der Partei zu dienen und der Revolution zum Sieg zu verhelfen. Im Alter von 52 Jahren kehrte er zurück. In diesen 34 Jahren war er 12 Jahre berufstätig. Die übrigen 22 Jahre verbrachte er in verschiedenen Gefängnissen u. Arbeitslagern, in d. Verbannung.

Herr Zhou wurde 1926 in Schanghai geboren. Die christlichen Eltern waren beide Lehrer. Der Vater wurde Kleinunternehmer, betrieb eine Werkstatt mit etwa 25 Arbeiterinnen, die Flickenteppiche produzierten. Mit 15 Jahren erlernte der junge Zhou in der Deutsch-Chinesischen Mittelschule in Shanghai die deutsche Sprache. Nach dem Abitur studierte er westliche Medizin an der Deutschen Medizinischen Akademie Schanghai. Unterbrechung des Studiums, um, wie auch andere patriotische Studenten, am Kampf gegen die japanischen Besatzer teilzunehmen. Manche gingen zu Tschiang Kai-schek. Zhou ging zu den Kommunisten, seiner Schwester folgend, und wurde als Propagandasoldat einer politischen Abteilung unterstellt. Er nahm den Decknahmen Chun an, was „Reinheit“ heißt und zu seinem Lebensmotto wurde. Er machte erste Erfahrungen im Hungern, Frieren, Marschieren und Schlafen ohne Bettstatt auf seinem kurzen Weg des „Langen Marsches“.

Nach der Kapitulation Japans und dem Ende des Zweiten Weltkriegs Fortführung des Medizinstudiums an der nach Schanghai zurückgekehrten Tong-Ji-Universität, Eintritt in die kommunistische Studentenbewegung, die illegal arbeitete im nationalistisch kontrollierten Schanghai. Zhou geriet auf eine schwarze Liste, brach erneut sein Studium ab und floh ins befreite Gebiet. Dort Besuch der kommunistischen „Mitte-China-Aufbau-Universität“, an der berühmte Experten lehrten. Nach Ausbruch des Bürgerkrieges Auflösung der Universität und Umwandlung in viele kleine Einheiten, in eine „mobile Universität“ auf den Dörfern. Nun Studium der Gesellschafts- und Politikwissenschaft, des Historischen und Dialektischen Materialismus, der Politischen Ökonomie, der Schriften Mao Tse-tungs. Zhou wurde überzeugter Kommunist, war bereit, sein Leben in den Dienst dieser Überzeugung zu stellen. 1947 erste Stelle in Yantai als Dolmetscher der KP bei Verhandlungen zwischen den Nationalisten und der Hilfsorganisation UNRRA. Zhou stellte seinen ersten Antrag auf Aufnahme in die Kommunistische Partei. Dieser Antrag – wie auch jeder weitere – wurde abgelehnt. Der Unternehmersohn und Intellektuelle hoffte während seiner lebenslänglichen Probezeit vergeblich. Nie war er der Partei rein genug, nie durfte er in all den Jahren Mitglied werden. Er arbeitete dennoch unbeirrbar für die Partei und versuchte, sein Bestes zu geben.

1947, nach der Evakuierung von Yantai, Versetzung in die Nordmandschurei in die Stadt Harbin. Die Hinreise musste der junge Zhou größtenteils zu Fuß und allein zurücklegen. 2.000 Kilometer, von Dorf zu Dorf, wurden sein persönlicher „Langer Marsch“. In Harbin arbeitete er tagsüber als Übersetzer und Dolmetscher in der Abteilung für Internationale Propaganda, abends als Radioansager der englischsprachigen Sendungen der Nordost-Volksrundfunkstation. Nach der Befreiung Pekings 1949, Versetzung dorthin. Er wurde Aufseher bei der Renovierung des alten Außenministeriums, die bis zur Ausrufung der Volksrepublik abgeschlossen sein musste. Nach der Proklamation Arbeit als Übersetzer und Dolmetscher im Außenministerium, Hauptabteilung Osteuropa und Sowjetunion, ab Mitte 1950 zuständig für Gespräche mit der Diplomatischen Mission der DDR und ausländischen Delegationen. In dieser Funktion wurde er auch Dolmetscher für Mao Tse-tung, Tschu En-lai und diverse hohe Funktionäre. 1955 Versetzung in den größten Verlag Chinas, in den Volksverlag für Literatur in Peking, Redaktion für Fremde Literaturen. 1955 Kampagne gegen „versteckte Konterrevolutionäre“. Im Verlag wurden zwölf Mitarbeiter „entlarvt“ und ein Jahr lang auf Politversammlungen persönlich entehrt und niedergemacht, zu Isolation und Hilfsarbeiten gezwungen. Am Ende der Kampagne erklärte die Parteileitung: Kein Mitarbeiter des Verlages war ein Konterrevolutionär. Ohne Entschuldigung wurden die Diffamierten wieder in ihre ehemaligen Positionen gehoben. 1956 rief Mao Tse-tung auf zur berühmten Kampagne „Lasst 100 Blumen blühen . . .“ zur Rektifikation der Partei. Herr Zhou Chun folgte dem Aufruf, entschuldigte sich bei den zwölf Diffamierten und hielt eine parteikritische Rede, die anfangs begeistert aufgenommen wurde von den Genossen. 1957 Abbruch der Rektifikationsbewegung, dafür massive Kampagne gegen „Rechtsabweichler“. Herr Zhou wurde selbst zum Diffamierten und „Kampfgegenstand“ in den Kampfveranstaltungen des Verlages. Er musste Selbstkritik üben. Offen und beherzt äußerte er sich auf einer Wandzeitung über seine Probleme mit der Selbstherrlichkeit der Partei und kritisierte den Personenkult um Mao Tse-tung.

Zur Strafe schickte man ihn zwangsweise in die Verlagssetzerei zur Toiletten- und Spucknapfreinigung, um sich zu läutern. Herr Zhou war dem Aufruf der Partei, sie zu kritisieren, zweimal gefolgt. Dafür büßte er die folgenden 22 Jahre in der Verbannung, in diversen Gefängnissen, Arbeits- und Straflagern. 1979 endete seine Verbannung. Deng Xiaoping rehabilitierte die Rechtsabweichler. Nach Tätigkeiten an verschiedenen Hochschulen erhielt Herr Zhou Chun eine Professur an der Jiao-Tong-Universität in Schanghai. Ende 1987, vollkommen unerwartet, seine Emeritierung. Die Versetzung in den Ruhestand, als Veteran der Revolution mit vollen Bezügen. Bei längeren Auslandsreisen für ein Buchprojekt kam er 1988 auch nach Berlin, wo ihn die blutigen Ereignisse auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ und das Kennenlernen seiner heutigen Frau vorerst festhielten.

Hat Herr Zhou ein Verbrechen begangen? Herr Zhou hatte keine Bombe unter seinem Mantel, Herr Zhou wollte den Großen Vorsitzenden nicht stürzen, nicht die Partei zersetzen. Herr Zhou liebte den Großen Vorsitzenden und die Partei. Herr Zhou wollte ihr nur die Wahrheit sagen. Aber die Partei ist so empfindlich wie das Hinterteil des Tigers. Bei Berührung zeigt sie die Krallen und wird unberechenbar. „Ist das Hinterteil des Tigers wirklich unberührbar? Man wird es berühren!“, schrieb J. Chen 1962 in den Mao Papers. Herr Zhou hat es berührt, und er hat überlebt.

An einem sonnigen Herbstnachmittag erreichen wir pünktlich das schmucklose Friedenauer Mietshaus, in dem er wohnt. Wir steigen bis hinauf ins oberste Stockwerk, wo wir sehr herzlich von unserem Gastgeber und seiner deutschen Frau empfangen und ins Wohnzimmer gebeten werden. Hier ist nichts chinesisch, außer dem Gastgeber und dem guten Tee in einer schönen Kanne. Herr Zhou gibt uns die Texte über die bisher porträtierten Experten zurück und sagt nach kurzem Zögern: „Darf ich ehrlich sein? Ich beziehe mich jetzt nicht auf die wissenschaftlichen Aspekte der Personen, über die Sie geschrieben haben – sondern ich fragte mich Folgendes: Ob die Haare wenig sind, ob die Hose rutscht, wie die Zähne sind oder wie die Wohnung aussieht, was hat das mit einem Interview zu tun? Für mich ist einzig und allein das wichtig, was jemand sagt und denkt.“ Er jedenfalls möchte so nicht dargestellt werden. Im weiteren Wortwechsel stellt sich heraus, dass Herr Professor Zhou sich vor allem an solchen Beschreibungen stößt, die er für eindeutig negativ hält, also Zahnlosigkeit, rutschende Hosen und auch die Erwähnung dessen, dass jemand sich ständig bewegt. Unsere Versicherungen, dass Herr Professor Treder – um dessen Darstellung es geht – sich nicht im Geringsten daran stößt, sondern souverän und voller Selbstironie seine Eigenarten meistert, ändert nichts. Man verbleibt so, dass wir den Wunsch selbstverständlich respektieren.

Auf die Frage, wie es eigentlich kam, dass ein Übersetzer, ein routinierter Spezialist für Sprachen und Sprachbedeutung, sich so sehr irren konnte bei der Übersetzung politischer Metaphern innerhalb der eigenen Sprache, sagt Herr Zhou nachdenklich: „Das hat sehr viel damit zu tun, dass die meisten Intellektuellen wirklich etwas für ihr Land tun wollten, etwas besonders Gutes, und dieser aufrichtige Wunsch hat uns vielleicht besonders blind gemacht. Diese Naivität war eine Generationserscheinung, nicht wahr – sie betraf nicht nur die Einzelpersonen. 1956 hat Tschu En-lai im Namen der Partei zum ersten Mal eine Erklärung abgegeben; es hieß, dass die Intellektuellen nun keine bourgeoisen oder petitbourgeoisen Elemente mehr seien, sondern Bestandteil der Werktätigen. Vorher waren sie wertlos, Bürger zweiten Ranges, doch nun – so dachten wir – werden sie endlich anerkannt. Viele Intellektuelle waren darüber sehr glücklich, denn sie fühlten, dass sich der Abstand zwischen ihnen und der Partei wesentlich verringert hatte. Auch sie waren nun aufgerufen, die Partei ohne Vorbehalt zu kritisieren, denn die Partei hatte ja beschlossen, ihre Organisation, ihre Arbeit und ihren Stil zu verbessern durch diese Kampagne. Dass es dabei auch und besonders um die Hervorlockung der bürgerlichen Rechtskräfte, der Ungeheuer und Schlangen ging, hat Mao erst später zugegeben. Aber die Intellektuellen in China waren natürlich nicht alle gleich. Manche waren vorsichtiger, manche waren ausgesprochen vorsichtig . . ., aber ich war schon als Kind sehr offen und ehrlich . . .“

Herr Zhou hat immer versucht, ein guter Genosse zu sein, hat seine persönlichen Ziele zu Gunsten der Parteiinteressen aufgegeben, hatte keine Scheu vor körperlichen Strapazen, Hunger, Kälte, Ungeziefer, Krankheit. Er ist marschiert und marschiert, um ein guter Genosse zu sein, aber immer hat man ihm gesagt – nein, jetzt noch nicht, warte noch ein bisschen, du bist noch nicht so weit . . .“ Über diese Zusammenfassung von uns bricht Herr Zhou in ein heftiges Lachen aus, es klingt selbstironisch und hat Wärme – wenn ich das sagen darf. Herr Zhou erklärt: „Parteimitglied durfte ich nie werden, und ein Grund dafür war, dass ich ein Unternehmersohn bin oder war, es ist aber nicht der einzige Grund. Es gibt einen Unterschied zwischen mir und meinen Geschwistern: Während ich nur Mitglied der Jugendliga sein durfte, wurden mein Bruder und meine Schwester schon früh in die Partei aufgenommen . . . meine Schwester ist auch heute immer noch Parteimitglied. Schuld daran, dass ich es nicht bin, ist ganz deutlich diese Krankheit – ich sage absichtlich ‚Krankheit‘ –, dass ich immer die Wahrheit sagen muss, ohne Rücksicht darauf, dass es auf mich selbst zurückschlagen könnte. Diese Krankheit hat weder mein älterer Bruder noch meine jüngere Schwester. Es ist krankhaft . . ., dennoch ist es aber leider so, dass auch ich ein Mitläufer war; denn wer hat zum Beispiel nicht gerufen: ‚Es lebe der Genosse Mao Tse-tung, es lebe der Vorsitzende . . .‘? Alle!! Ich auch. Und das ist es, was ich mich fragte: Was kann man gegen eine Lawine tun, was gegen ein Erdbeben? Ich frage mich auch: Wer hat überhaupt – egal nun wer – die Möglichkeit, von Anfang bis Ende seinen Lebensweg selbst zu entscheiden, hat es überhaupt jemals einen solchen Menschen gegeben? Kaum möglich.“ Herr Zhou wirkt ein wenig resigniert, dann aber hellen sich seine Gesichtszüge wieder auf.

„Mein Wunsch, dem Volke zu dienen, war groß, ging aber nie in Erfüllung . . . Dieser Gedanke übrigens, dass jeder Mann – oder besser gesagt: jeder Mensch – etwas Gutes für sein Land tun soll – oder besser gesagt: für sein Volk –, dieser Gedanke stammt von Konfuzius. Er ist ein Kernpunkt seiner Philosophie, ein Kernpunkt des Konfuzianismus. Ich bin irgendwie nicht nur kommunistisch, sondern auch konfuzianisch erzogen worden, das ist mir erst viel später bewusst geworden. Nicht in der Schule und nicht von den Eltern – die Generation meiner Eltern hat in der Schule schon nicht mehr den Konfuzianismus gelernt –, meine Erziehung im Geiste des Konfuzianismus war die Aufgabe meines Großvaters. Mein Großvater war Arzt der chinesischen Medizin, er verstand sich als Buddhist . . . Also in China ist das nicht so wie hier, man muss nicht Mitglied einer Glaubensgemeinschaft sein, Beitrag zahlen usw.; wer glaubt, er sei Buddhist, der ist schon einer. Es wird am 1. und 15. Tag des Monats nur vegetarisch gegessen, sogar Eier sind nicht erlaubt. Und dann haben wir unsere Götter – es sind viele, viele Götter –, sogar die Küche hat einen Gott, die Tür, der Herd . . . Das haben wir alles mit dem Großvater . . . ja, ja, doch, doch, ja. Und mein Großvater war auch Konfuzianer und hat uns immer von Konfuzius erzählt. Wir haben zum Beispiel meist gelacht, wenn er anfing mit dem Ausruf: Kinder! – Wir saßen zu sechst um den Tisch, wir Geschwister, meine Eltern und der Großvater. Er hatte den Vorsitz, und er fing an: ‚Kinder, Konfuzius führte während des Essens keine Gespräche!‘ Gut, wir wollten essen und gar nicht sprechen, das war kein Problem. Aber dann fing er an zu sprechen, über Konfuzius, und zwar sehr viel. Beispielsweise: Konfuzius sagte, wenn das Fleisch irgendwie nicht schmeckt – iss das nicht!! Fisch und Fleisch, die Fäulnis zeigten – dergleichen aß er nicht. Was einen üblen Geruch hatte, aß er nicht . . . Und ich, ich dachte immer – mein Gott, muss das ein großer Philosoph gewesen sein, uns so was zu lehren. Jeder weiß doch aus Instinkt, dass man Fleisch, das stinkt, nicht mehr isst. Und in dieser Richtung hat uns der Großvater sehr, sehr viel erzählt.“ Herr Zhou schweigt einen Moment und fährt dann fort:

„Den Konfuzianismus gab es unter jedem Regime – vor Mao war es so und unter Mao auch –, obgleich sich die Kommunisten in China ja als Gegner des Konfuzianismus verstanden. Aber wenn man ein bisschen genauer hinsieht: Wer war kein Konfuzianer? Mao! Aber was war beispielsweise mit Tschu En-lai? Er war kein Bauernsohn, er kam aus der Großstadt, studierte im Ausland, war sehr gebildet. Aber er hat nie NEIN gesagt. Auch nicht bei der ‚Eisen- und Stahlschlacht‘, wo Hunderttausende, oft nach Feierabend, in kleinen, selbst gebauten Lehmöfen Stahl schmelzen sollten. Man sagte, ja, wir tun Alteisen in den Ofen hinein bei entsprechender Temperatur, und heraus kommt Stahl! Also mein Gott! Ich habe verstanden, und der Herr Premierminister Tschu En-lai hat das nicht verstanden? Es wurde Alteisen eingeschmolzen und heraus kam wieder Alteisen! Das ist natürlich eine wahnsinnige Vorstellung, und Tschu En-lai, als Intellektueller, hatte alles verstanden. Aber als Konfuzianer, also als Kanzler zum Kaiser, war er absolut willig und loyal, hat alles mitgemacht, war von vorbildlicher Disziplin. Der typische Kanzler zum Kaiser. Diesen Lebensweg hat er sich selber ausgesucht und ist ihn gegangen bis zum Ende. Ja, es gab diesen Konfuzianismus, auch dann in der Hierarchie der Partei, in den Riten zum Beispiel hat der Mao-Kult damals sogar den Stalin-Kult noch übertroffen. Ich musste feststellen, nur Mao hatte ein Loblied auf sich selbst, kein Kaiser vor ihm. Kein Führer, ob kommunistisch oder nicht, hatte ein Loblied auf sich selbst. In den ersten Jahren der Volksrepublik hatten wir viele und sehr große Kundgebungen, riesige Menschenmengen kamen zusammen, und wir konnten natürlich nicht alle vorne stehen – es war unmöglich, dass alle Mao sehen. Aber da hörten wir die Militärkapelle das Lied spielen, es hat folgenden Text: ‚Der Osten wird rot, die Sonne geht auf / In China ist ein Mao Tse-tung aufgetaucht / Er strebt für das Volk nach seinem Glück / Hu-er-hei-ya! Er ist der große Retter des Volkes.‘ Es gibt drei Stophen, erst in der letzten wird die Kommunistische Partei gelobt. Also, dieses Lied erklang, und da wussten wir – ach, jetzt, jetzt kommt der Vorsitzende. Und er kam. Meines Erachtens war Mao der letzte Kaiser Chinas. Hinter verriegelten Haustüren und geschlossenen Fenstern sagte man: ‚Mao geht diesmal wirklich zu weit!‘ Dieser Meinung waren besonders die älteren Intellektuellen, aber niemand wagte, es laut zu sagen, damals, ich auch nicht. Erst später fand ich den Mut, zu gestehen, dass mir Maos Loblied und die Losung ‚Es lebe Vorsitzender Mao!‘ zuwider waren. Schuld daran war meine Wahrheitsliebe, und die habe ich nicht von Konfuzius gelernt. Viele Dinge habe ich durch die britische Schule gelernt, besonders aber durch die deutsche Schule. Diese Gedanken kamen vom Westen, von der Aufklärung, von Kant, das ist völlig identisch mit den Gedanken von Konfuzius oder umgekehrt. Und wir lasen sehr viele Übersetzungen aus aller Welt. Man ist wie Wachs als Kind, die Gedanken kamen aus allen Richtungen. Wie viele Filme habe ich gesehen! Hollywoodfilme, französische Filme, deutsche auch! – Und ‚Lenin im Oktober‘ habe ich dreimal gesehen, komischerweise. Einiges haben wir nicht wahrgenommen, aber einiges ist geblieben; in der Seele, im Gedächtnis, im Körper.“

Herr Zhou macht eine kleine Pause und trinkt einen Schluck Tee. Auf die Bitte, etwas von der Zeit im Außenministerium zu erzählen, berichtet er zunächst von seiner ungewohnten Position als Aufseher und vom Problem, die Arbeiter in der richtigen Weise zu begrüßen beim Antritt seiner Stelle. Er sagte zu ihnen, während sie gerade eine Pause machten und rauchten: „Guten Tag, Alte Meister, ich bin Kleiner Zhou vom Außenministerium. Ich bin gekommen, um von Ihnen zu lernen und mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Zuerst möchte ich mich im Namen sämtlicher Mitarbeiter des Außenministeriums, einschließlich des Außenministers, bei Ihnen für Ihre musterhaften Leistungen herzlich bedanken. Sie sehen, wir stehen vor einer wichtigen und glorreichen Aufgabe, denn die Renovierung muss vor dem 1. Oktober fertig werden, damit der Außenminister hier Diplomaten aus aller Welt empfangen kann. Wir müssen die Renovierung nicht nur rechtzeitig, sondern auch gründlich machen.“ Dann versuchte Herr Zhou, etwas Humor einfließen zu lassen, aber keiner der Arbeiter lachte, also appellierte er an ihr politisches Bewusstsein: „Alte Meister, ich weiß, dass Sie in der alten Gesellschaft als Sklaven der verdammten Kapitalisten wie Ochsen und Pferde gelebt haben. Aber dank der Kommunistischen Partei, dank dem Vorsitzenden Mao Tse-tung . . .“ Aber auch darauf hätten die Arbeiter nicht reagiert, sagt Herr Zhou. „Sie standen auf, klopften ihre Pfeifen an den Sohlen aus und gingen schweigend an die Arbeit. Trotz dieser schmählichen Niederlage wurde das Außenministerium rechtzeitig fertig. Niemand hat sich dafür bei mir bedankt“, klagt Herr Zhou, „immerhin konnte die Gründungsversammlung nur deshalb stattfinden, weil alles rechtzeitig und qualitativ perfekt übergeben wurde, das war schon eine Leistung.“ „Der Arbeiter“, fügen wir hinzu; „es wäre vielleicht auch so fertig geworden . . .“ „Ohne mich!!!“, ruft Herr Zhou aus und lacht heftig auf seine sehr ansteckende Weise. Dann berichtet er von der Zeit als Dolmetscher im Außenministerium:

„Auf Grund unserer Arbeit im Ministerium haben wir Mao Tse-tung ziemlich oft gesehen, trotzdem war es aufregend. Jedes Mal. Ich war einerseits Sachbearbeiter und Übersetzer von Abhandlungen, Abkommen über Hochschul-, Erziehungs- und Filmaustausch, Glückwunschtelegrammen, von Dokumenten und anderen Papieren, also ich habe ins Englische und Deutsche übersetzt, in beide Richtungen, später, als der DDR-Botschafter kam, war ich für die Übersetzung des Deutschen ins Chinesische und umgekehrt zuständig. In dieser Funktion war ich dann auch Dolmetscher von Mao Tse-tung und Tschu En-lai. Zum ersten Mal 1954, als die Volksrepublik ihren 5. Gründungstag feierte mit großem Zeremoniell. Ich begleitete als Dolmetscher die Delegation und war etwas enttäuscht, dass weder Pieck noch Grotewohl gekommen waren, denn sogar Chruschtschow und andere Parteichefs der befreundeten Ländern sollten kommen. Ich war trotzdem sehr glücklich, denn ich durfte zwischen Mao und Tsch En-lai Platz nehmen zum Übersetzen. Für Mao zu übersetzen war leicht und schwer zugleich, leicht deshalb, weil er nie lange Reden hielt, sondern kurz und präzise sprach; schwer, weil er sich keine Mühe gab, Hochchinesisch zu sprechen, und sein Hunan-Dialekt für einen Schanghaier wie mich manchmal fast unverständlich war. Er saß ruhig und gelassen da, mit einer Da-Zhong-Hua-Zigarette – auf Deutsch: ‚Das große China‘ – zwischen den Fingern, rauchte aber fast nie. Er machte auf mich den Eindruck eines belastbaren und zuverlässigen Führers.

Ein anderes Mal kam Chruschtschow. Wir waren auf dem Weg zur Großen Mauer, da kam die Mitteilung. Alle zurück! Chruschtschow landet. Wir schafften es gerade noch zum Flughafen, und, ich kann mich noch ganz genau erinnern, der Botschafter der DDR, Genosse König, war so begeistert darüber, dass er den großen Chruschtschow begrüßen durfte. Und vor lauter Begeisterung trat er auf meinen Fuß. Ohne sich zu entschuldigen! Ich dachte mir: Muss das sein?! Eine andere Szene. Mao Tse-tung, Tschu En-lai und die KP-Führung waren ja alle Chruschtschow gegenüber sehr skeptisch und misstrauisch, aber protokollarisch haben wir trotzdem alles völlig richtig gemacht. Wir saßen in einem Nebenraum des Theaters in Peking. Mao war der Gastgeber, und es gab einen Empfang und auch eine Pekingoper. Es traten die besten und größten Meister Chinas auf der Bühne auf. Wir waren also vor Beginn alle im Nebenraum, dann kam ein Beamter und sagte, dass man nun anfangen müsse, es war an der Zeit. Dann standen alle auf und gingen in Richtung Tür und wollten ins Theater, aber es gab ein Problem: Mao war groß, und Chruschtschow war groß, ja, groß und dick. Und deshalb kamen sie nicht gleichzeitig zusammen durch die Tür. Da sagte Mao: Genosse Chruschtschow, nach Ihnen. Und Chruschtschow: Genosse Mao, nach Ihnen. Und wir standen ganz weit hinten, und niemand konnte übersetzen. Aber wer konnte denn damit rechnen? Und die beiden standen und sagten abwechselnd immer: Nach dir! Nach dir! Bis dann Tschu En-lai, der kluge Außenminister, sagte: Vorsitzender, du bist heute Abend der Gastgeber, geh du zuerst. Na gut, sagte Mao, ich gehe vor, und Chruschtschow folgte hinter ihm. Das war protokollarisch korrekt und entspricht auch im Privatleben der Höflichkeit. ‚Darf ich den Weg kennen?‘, sagt man. ‚Sie entschuldigen, dass ich vorangehe.‘ Ansonsten hat natürlich der Gast immer den Vortritt. Es waren beide Bauernsöhne, und in manchen Momenten waren sie unschlüssig.

Auf die Frage, ob nicht ein großer Teil der zu übersetzenden Reden und Dialoge aus Floskeln bestand und ob es schwer gewesen sei, Floskeln zu übersetzen, lächelt Herr Zhou und sagt: Wir haben uns gar nicht gefragt, wir haben es einfach so, wie wir es für richtig gehalten haben, übersetzt. Wir Chinesen, wir kannten uns aus mit Floskeln. Auf den politischen Schulungen lernte man, viel zu sprechen, ohne etwas zu sagen. Und auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution, das war auf dem Lande, war es damals sogar üblich, dass jeder, der etwas kaufen wollte und in den Laden kam, erst einmal warten musste und zuhören. Der Verkäufer sagte: ‚Äh – unser großer Führer, der Vorsitzende Mao Tse-tung hat gesagt: ‚Wir müssen sparsam leben!‘ Und der Kunde antwortete: ‚Ja, der große Führer hat auch gesagt, wir müssen hart arbeiten . . .‘ Erst dann fragte der Verkäufer: ‚Und was darf es sein?‘ Und im Gefängnis standen wir, frühmorgens, als die Sonne aufging, in Reihen vor dem Feld. Und vor der Arbeit musste der Gruppenleiter aus der roten Mao-Bibel vorlesen. Wir wussten schon immer an der Art des Zitats genau, ach, heute wird es schlimm, heute müssen wir besonders hart arbeiten, wir müssen keine Scheu haben vor Müdigkeit oder vor Schmutz. Und wir mussten das alles wiederholen, mit dem Gesicht zum Osten gewandt, zur Sonne – Mao galt als die Große Sonne in unseren Herzen, und die Mao-Bibel hat man hochgehoben, vom Herzen aus: ‚Es lebe der große Vorsitzede Mao Tse-tung!‘ So bewies der Gefangene seine Loyalität, mit Floskeln. Erst dann ging es ab zur Arbeit. Die Mao-Bibel wurde das ‚Rote Schatzbuch‘ genannt, jeder trug es bei sich zum Studium, wer das ‚Schatzbuch‘ beschmutzte oder verlor, der wurde bestraft . . . Ich weiß heute eigentlich gar nicht mehr, wie ich das alles durchgestanden habe. Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, warum ich es durchstehen musste. Aber langsam bin ich müde geworden, noch weiter nach einer Antwort zu suchen. Die ganzen Jahre im Gefängnis habe ich mich gefragt: Was habe ich Falsches getan? Also, es gab mehrere Lektoren im Verlag . . . aber nur ich sitze im Gefängnis, alle sind Intellektuelle, doch sie können weiterarbeiten. Nicht jeder Rechtsabweichler musste ins Gefängnis, aber ich wurde ja nicht nur als Rechtsabweichler bestraft, ich galt als Verräter. Verräter in diesem Sinne, dass ich als Mitglied der Jugendliga die KP kritisiert hatte. Und diese Kampagne gegen die Rechtsabweichler, die hatte Deng Xiaoping persönlich geführt, er war der Leiter dieser Führungsgruppe. Dann, 1978, wurden wir alle – also nicht rehabilitiert, sondern als korrigiert erachtet. Und diese Kampagne hat wieder Deng Xiaoping geleitet. Er hat seine eigene Kampagne korrigiert. Ich war frei. Eine Entschuldigung gab es aber nicht, man sagte mir bei der Entlassung: Genosse Zhou, du bist nie juristisch bestraft worden. Merke dir: 1964 bis 1978 war für dich eine ereignislose Periode. Wenn ich ein Formular ausfüllen muss, soll ich diese Periode leer lassen. Ich werde manchmal gefragt: Hassen Sie Mao? Und ich sage Nein. So, wie man ihm vorher fälschlicherweise alle Vorzüge zugeschrieben hat, so soll man ihm nun nicht alle Fehler zuschreiben. Mao war am Anfang ein völlig anderer Mann als am Ende. Der Fehlschlag mit dem Sozialismus, das muss man analysieren. Aber ich finde keinen Grund, dass ich diese Idee oder diese Ideale aufgebe. Ich finde im Westen keine Lösungen für die Probleme – schon gar keine Lösungen für die Probleme, die wir in China haben. Nach all den Jahren bin ich nicht etwa skeptisch geworden – ach, der Kommunismus, der Sozialismus –, nein, das ist nicht der Fall, ich bin meiner Überzeugung treu geblieben.

Buchhinweis: „Ach, was für ein Leben! Schicksal eines chinesischen Intellektuellen“. Autobiografischer Roman von Zhou Chun. Ersch. Dez. 2000, Abera Verl. Hamburg