Zivilcourage im Land der Täter

aus Berlin PHILIPP GESSLER

Mittags, nach der Schule, sah das jeden Tag so aus: Eine Reihe von Jungs stand vor dem „Philantropin“ in Frankfurt am Main. Wer heraus kam, bekam Dresche, auch die Mädchen. Eines von ihnen war Ruth Block. Als Jüdin musste sie wie alle Mitschüler dieser jüdischen Schule die Schläge nicht uniformierter Hitlerjungen erdulden. Auch deshalb drängte sie ihre Eltern: „Lasst uns gehen!“

Weg aus Deutschland wollte Ruth Block, seit sie die Begeisterung der Wiener für Hitler nach dem „Anschluss“ 1938 mitbekommen hatte. Im Radio hörte die Zehnjährige die berauschte Masse auf dem Heldenplatz, noch heute hat sie die Jubelschreie im Ohr. Aber ihre Eltern zögerten, wollten nicht alles aufgeben, das Klaviergeschäft nicht, nicht das ganze Vermögen, das ihnen bei der Ausreise durch die Nazis abgepresst worden wäre. Zwei Tage vor der drohenden Deportation, kurz vor der Pogromnacht vom 9. November, entschlossen sie sich dann doch zur Auswanderung. Nach Amerika. Mit drei Koffern. „Das war alles“, sagt Ruth Block.

„Fact Finding Mission“

In diesen Tagen ist die frühere Frankfurterin zurück in Deutschland, erinnert sich an die Erfahrungen mit den Deutschen und den Nazis unter ihnen. Ruth Block, die heute in Los Angeles lebt, informiert sich über den Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik. Die 72-Jährige ist als Gast der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und des American Jewish Committee (AJC) in Berlin bei der Tagung „Herausforderungen für die Demokratie im vereinigten Deutschland“. Neben Migrationsfragen geht es dabei nur um eines: die neuen Nazis im Land der Täter. Ruth Block ist zudem mit einer Handvoll anderer „führender Vertreter“ des AJC, wie die FES sie nennt, in Brandenburg unterwegs. Eine „Fact Finding Mission“. Um zu sehen, wie das ist mit den Deutschen und den (Neo-)Nazis.

Pia Bungarten, die für die FES die Tagung organisiert hat, erklärt das Hauptziel des Treffens so: Es solle ein realistisches Bild von Deutschland gezeichnet werden. Institutionen wie die Ebert-Stiftung betrieben mit solchen Seminaren die Außenpolitik der Zukunft, sagt ihr Kollege Uwe Optenhögel. Es gehe darum, in anderen Ländern die Eliten zu erreichen. Die, die Meinung machten, wolle man überzeugen.

Ruth Block braucht ein wenig Überzeugung. Dass das alles gut gehen wird mit der deutschen Demokratie, davon ist sie vor Beginn der Berliner Tagung nicht so überzeugt. „Ich weiß nicht, wie schlimm es ist“, sagt sie. Immerhin, 200.000 seien in Berlin gegen den Rechtsradikalismus auf die Straße gegangen, weiß sie. Das sei ermutigend. „Es ist gut, dass viele dagegen sind.“ In der Hitlerzeit sei niemand auf die Straße gegangen.

Wolfgang Nowak, Leiter des Grundsatzreferats im Kanzleramt, versucht, die schlimmsten Befürchtungen gleich zu Beginn der Tagung zu verscheuchen. Zwar habe man in den letzten Jahren zu viel in die Wirtschaft investiert und zu wenig in die jungen Menschen, sagt er bei einem Abendessen. Aber die Bundesregierung korrigiere dies gerade. Das Eröffnungsdinner findet in einem Hotel an der Rosenstraße statt. Hier protestierten 1943 hunderte nichtjüdische Angehörige verhafteter Juden erfolgreich gegen deren Inhaftierung und anstehende Deportation.

Diese Geschichte erzählt Nowak nicht, aber er sagt: Von der deutschen Tradition des Mitläufers müsse man zu einer Tradition des Widerstandes und der Zivilcourage kommen. Er sei da „zuversichtlich, und nicht von Amts wegen“. In Deutschland bestehe „noch nicht einmal die Gefahr“, dass die Demokratie scheitere. Sie würde das gern glauben, kommentiert Ruth Block die einführende Rede. Ab und zu klingt ein wenig von dem hessischen Akzent an, den sie sich über die Jahrzehnte bewahrt hat. Das macht ihre Sätze noch sanfter.

Das Gute in Deutschland

Am nächsten Morgen, dem eigentlichen Seminartag, wirkt sie aufgeräumt, die Morgenlektüre deutscher Zeitungen hat sie schon hinter sich. Ein Artikel über die neuen Vorwürfe des Vorsitzenden der Frankfurter jüdischen Gemeinde, Salomon Stern, gegen Martin Walser interessiert sie. Ruth Block hat sich das „Zett“-Button an die Bluse geheftet – sie liest und schätzt die taz. Denn im „Board of Governors“, dem 100-köpfigen AJC-Leitungsgremium, hat sie ehrenamtlich die Aufgabe übernommen, jeden Tag zwei, drei Stunden lang via Internet deutsche Zeitungen durchzulesen und Berichte über die Lage in Deutschland zu schreiben. „Ich bin die Einzige, die es tut“, sagt sie. Für andere, denen die deutsche Kultur nicht so bekannt sei, wäre das sehr schwierig. Sie habe sich eben gefragt: „Was willst du getan haben, bevor du stirbst?“ Und sei zu dem Ergebnis gekommen: etwas gegen den Antisemitismus. Ruth Block will Brücken bauen nach Deutschland. In ihren Berichten versuche sie, alles was in Deutschland an Gutem passiere, hervorzuheben, sagt sie. Man glaubt es ihr sofort.

„Was macht die Polizei?“

Deidre Berger, die Leiterin des AJC-Büros in Berlin, begrüßt die rund 75 Gäste der Tagung. Sie haben sich im modernen Kongresssaal der Ebert-Stiftung versammelt, beschützt von breiten Wachleuten davor. Die AJC-Repräsentantin erwähnt den Brandanschlag von Solingen, die Rohrbombe in Düsseldorf und das Urteil im Gubener Hetzjagd-Prozess, das die Zeitungen gerade gemeldet haben. Es geht um „Ursprünge und Gründe von Rechtsextremismus“, später um die Initiativen des Staates und der Zivilgesellschaft im Kampf gegen den braunen Sumpf. Zu hören sind der Parteienforscher Richard Stöss von der FU Berlin, später die Staatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast vom Bundesministerium des Innern, Anetta Kahane von der Amadeo-Antonio-Stiftung.

Beim Rechtsextremismus-Experten Bernd Wagner, Leiter des Berliner Zentrums für demokratische Kultur, hat Ruth Block Schwierigkeiten – sie hört etwas schlecht und möchte doch alles ganz genau mitkriegen. Immer wieder mahnt sie, ins Mikrofon zu sprechen. Obwohl sie den deutschen Experten ohne Übersetzung folgen kann, schreibt sie ihre Notizen auf Englisch.

Ruth Block zieht kurz ihren Sitznachbarn zu Rate: Soll sie ihre Fragen auf Englisch oder lieber auf Deutsch stellen? Stöss hatte eben berichtet, dass das rechtsextremistische Wählerpotenzial zwar bei 13 Prozent liege, tatsächlich rechtsextrem wählen würden aber nur etwa 5 Prozent der Wählerschaft. Ob es denn möglich sei, dass in Zukunft tatsächlich mal 13 Prozent Neonazis wählen, fragt Ruth Block. Das komme auf die Umstände an, erklärt Stöss. Das rechtsextremistische Potenzial in Deutschland bewege sich schon seit Mitte der Fünfzigerjahre auf diesem Niveau. Mit Aufs und Abs. „Wir werden das nie auf null stellen können“, meint Stöss.

In der Kaffeepause unterhält sich Ruth Block mit einem Funktionär der Johanniter-Unfallhilfe. Der erzählt, wie sehr die rechte Jugendkultur auch auf dem Land zugenommen habe. „Und was macht die Polizei, wieso reagiert sie nicht?“, empört sich die Amerikanerin.

Wieder etwas mehr Vertrauen in die Staatsmacht flößt ihr Jürgen Kanehl, Bürgermeister der Stadt Wolgast in Mecklenburg-Vorpommern, ein. Der erzählt, wie es „unten an der Front“ abgeht, wie er versuche, die Flut von NPD-Aufklebern einzudämmen. Das Gubener Urteil, meint der Kommunalpolitiker, sei ein „hochgradiger Skandal“. Es gehe davon für die Rechten das Signal aus: Solange ihr nicht zuschlagt, ist alles okay. Anders als bei den Vorträgen anderer Referenten schreibt Ruth Block jetzt mit. Ihrem AJC-Kollegen Ralph Grunewald schiebt sie einen Zettel zu: „He’s the best.“ Grunewald will wissen, ob man die Einstellungen der Rechten verändern und wie man ihre Erfolge messen könne. Bürgermeister Kanehl sagt, die Rechten dürften nicht mehr das Gefühl haben, sie führten bloß aus, was alle anderen dächten.

Beim Mittagessen versucht Lawrence Ramer, ebenfalls „Governor“ und Namensgeber des Berliner Büros des American Jewish Committee, das milde Urteil für die Gubener Hetzjagd-Täter zu verstehen. In den USA wäre das ein „second degree murder“, sagt er. Seine deutschen Gesprächspartner bemühen sich, die juristischen Gründe für das Urteil aufzuzeichnen. „Interesting“, meint Ramer und holt sich noch einen Teller vom Buffet. Überzeugt wirkt er nicht. Ruth Block kann nicht nachvollziehen, wie denn die Befehlskette bei der Polizei sei: Man müsse doch Polizisten befehlen können, gegen Nazis aktiv zu werden.

Am Nachmittag schildern das AJC-Mitglied Steve Pomerantz, ein FBI-Spezialist für die Bekämpfung von „hate crimes“ und Leo Penta von der Katholischen Fachhochschule für Sozialwesen in Berlin US-amerikanische Perspektiven zum Thema Rechtsextremismus. Den US-Gästen scheint vieles davon allzu bekannt. Ralph Grunewald malt konzentriert in seinem Block – ein Bildchen sieht aus wie eine Handgranate. Etwas Leben kommt in die Bude, als Pomerantz sagt, er sehe leider keine Möglichkeit, in den USA ins Internet gestellte rechtsextremistische Netzseiten zu verbieten. Dies widerspreche dem Recht auf freie Meinungsäußerung.

Wolfram Meyer zu Uptrup, im brandenburgischen Bildungsministerium für das Aktionsbündnis gegen Rechtsextremismus verantwortlich, zeigt sich verwundert darüber, dass es in einigen US-Staaten zwar „hate-crime“-Gesetze gebe, die hasserfüllten Ergüsse von Rechtsradikalen aber ungehindert ins Internet gestellt werden dürften. Die USA hätten doch damals Soldaten nach Europa geschickt, um den Nationalsozialismus niederzuschlagen. Und jetzt komme dieses Gedankengut von dort wieder zurück in die Alte Welt.

Da platzt ihr der Kragen

Da platzt Ruth Block der Kragen. Auf Deutsch spricht sie ins Mikrofon. Als Jüdin, die die ersten Jahre ihres Lebens unter den Nazis gelitten habe, und als „Freundin der Deutschen“ könne sie es nicht akzeptieren, dass hier Vergleiche zwischen den USA von heute samt des dort anzutreffenden Gedankengutes und dem Deutschland der Nazizeit und dem damaligen Denken der Mehrheit der Deutschen gezogen würden. Sie habe es erlebt, das sei etwas anderes.

Später unterhält sie sich noch einmal kurz mit dem smarten Ministeriumssprecher – aber sie reden aneinander vorbei. „So etwas ärgert mich“, sagt sie noch. Und ist vor allem verärgert darüber, dass dies alles sie „nervös“ gemacht habe. Alle Sanftheit scheint verflogen.

Dann muss Ruth Block die Konferenz verlassen. Die Debatte über Migration ist sowieso eher lahm. Es sei „wunderbar“, dass sich Leute hier in Deutschland gegen den Rechtsextremismus engagierten, sagt sie noch. Aber wie tief gehe das? Dringe das wirklich bis zu den „roots“ vor?

Schade, denkt man, dass sie für diesen Kampf in Deutschland nicht zur Verfügung steht. Siegreich gegen die Nazis war damals übrigens einmal eine Klassensprecherin des Frankfurter „Philantropin“. Sie schlug einem Hitlerjungen, der einen Kopf größer war und ihr auflauerte, mit voller Wucht ihren Schulranzen ins Gesicht. Ihr Name: Ruth Block.