Am Fuß des Ararat

Annemarie Schwarzenbach und die Erotik der Landschaft: Die Aufzeichnungen zur großen Reise nach Afghanistan 1939/1940

von CRISTINA NORD

Am östlichen Ende der Türkei, am Fuß des Berges Ararat, stößt Annemarie Schwarzenbach auf die Reste eines vergessenen Fortschritts. Gleise rosten im Wüstensand, alte Lokomotiven liegen dort „wie Tiere, die in die Knie gebrochen sind“: Relikte aus dem Ersten Weltkrieg.

Gut zwanzig Jahre später und nur wenige Kilometer weiter wird erneut vom Fortschritt geträumt, werden Sümpfe trockengelegt und Brücken errichtet. Ingenieure, Arbeiter und Bauern aus der Türkei, aus Persien und der Sowjetunion legen eine neue Straße an, eine neue Stadt und neue Gleise dazu – „ich hörte das Rattern schwerer Dampfwalzen auf dem Kies und das Stampfen unzähliger Ochsenpaare, die den Weg ebneten“, notiert Schwarzenbach in ihren Reiseaufzeichnungen. Eine Auswahl davon liegt jetzt – 58 Jahre nach Schwarzenbachs frühem Tod – unter dem Titel „Alle Wege sind offen“ erstmals in Buchform vor.

Für die Schweizer Journalistin, Schriftstellerin und Fotografin sind die rostigen Gleise am Fuß des Ararat nur eine von vielen Stationen auf einer langen Reise. Am 6. Juni 1939, drei Monate bevor der Krieg anfangen wird, verlässt sie Genf gemeinsam mit der Reiseschriftstellerin Ella Maillart. Unterwegs sind die beiden Frauen in einem für unwegsames Gelände gerüsteten Wagen, einem Ford, mit dem sie über Jugoslawien, die Türkei und Persien bis nach Afghanistan und weiter bis Indien fahren. Ermöglicht wird das Unternehmen durch Vorschüsse, die die beiden Autorinnen von Zeitungen und Agenturen erhalten, etwa von der Zürcher Illustrierten und der Weltwoche.

Zudem erweist sich als hilfreich, dass Schwarzenbach im Besitz eines französischen Diplomatenpasses ist. Sieben Monate braucht sie bis Bombay; im Januar 1940 geht sie dort an Bord eines Schiffes, das sie über Aden und Port Said zurück nach Europa bringen wird.

Die außergewöhnliche Reise wird bereits zu Lebzeiten Schwarzenbachs (1908–1942) publizistisch aufbereitet – wenn auch in geringerem Ausmaß, als die Autorin selbst es sich erhofft haben mag. Denn der Krieg überschattet das öffentliche Interesse, die Zeitungen haben wenig Raum für Artikel, die entlegene Landstriche in Asien zum Schauplatz wählen.

Der jetzt vorliegende, schmale Band, den der Schweizer Literaturwissenschaftler Roger Perret betreut hat, bietet weder Reportagen im strengen Sinne, noch setzt er sich aus Tagebuchaufzeichnungen zusammen. Die Texte schließen das persönliche Erleben ein und klammern es zugleich aus. Der innere Zustand, die Zerrissenheit, die zwischen Euphorie und Niedergeschlagenheit schwankende Stimmung Schwarzenbachs – noch wenige Monate vor Reiseantritt war sie in einem Sanatorium, um vom Morphium loszukommen – bahnen sich einen Weg in die Texte. Innere Bewegtheit und die Bewegung durch den Raum überlagern einander.

Von den äußeren Umständen, den praktischen Seiten der Reise indes erfährt man wenig: dass sich Schwarzenbach und Maillart streiten und schließlich getrennter Wege gehen, findet keine Erwähnung, selten liest man von Missgeschicken, davon etwa, dass der Wagen liegen bleibt oder ein Nachtlager schwer zu finden ist. Dass es schwierig sein könnte, ohne männliche Begleitung eine solche Reise zu unternehmen, handelt Schwarzenbach zwar in einem eigenen Kapitel, aber eher lustlos ab.

Was die Autorin interessiert, ist etwas anderes: die Landschaft, die Magie, die dem Klang der Ortsnamen innewohnt, die Reise als Metapher der condition humaine, der mythische Gehalt des Geländes, das sie durchquert. In der Passage über die Bauarbeiten unweit des Ararat konfrontiert Schwarzenbach den technischen Eingriff mit diesem Gehalt: Hier fand die Sintflut statt, hier „liege der Erzvater Noah begraben, in einem Rebengarten“. An anderen Stellen konfrontiert sie Technik und Fortschritt mit einer Ursprünglichkeit, der sie bald mit Begeisterung, bald mit Argwohn begegnet. Dass Kinder zwölf Stunden am Tag arbeiten, entgeht ihr nicht; dass sie das Leben der Nomaden bewundert und begehrt, ist unübersehbar.

Die Landschaften dramatisiert sie bis hin zur erotischen Aufladung. Dann zittert die Ebene, peitscht der Wind, versiegt ein schmaler Streifen Nachthimmel „zwischen düster ragenden Felswänden“. Das Unfassbare der Natur – ob es nun der Weite der Ebene, der Tiefe der Felsschluchten oder dem Überfluss der Gärten entspringt – spiegelt das Unfassbare der menschlichen Existenz. Angesichts dieser Aufladung nimmt es nicht Wunder, wenn sich Schwarzenbach stellenweise im Ton vergreift und Pathosformeln bemüht. Doch dies kann die Schönheit von „Alle Wege sind offen“ nicht trüben. Im Gegenteil: Wenn Schwarzenbach ins Deklamieren gerät, dann macht der Kontrast nur umso deutlicher, wie aufregend ihr die übrigen Passagen geraten sind.

Annemarie Schwarzenbach: „Alle Wege sind offen. Die Reise nach Afghanistan 1939/1940“. Lenos Verlag, Basel 2000, 172 Seiten, 36 DM