Stadt der Seelen und Monster

Wenn die Verstorbenen auf Besuch kommen, dann ist die Nacht der lebenden Toten in Mexiko. Eine wunderliche Fiesta mit uralten Ritualen, die heutzutage Konkurrenz bekommt durch Halloween

Üppige Gabentische stehen für die Wiederkehrer aus der Unterwelt bereit.Zur Stärkung gibt es Wasser und Salz, frische Früchte, Totenbrot

von ANNE HUFFSCHMIED

Das Skelett eines Riesenreptils räkelt sich im grünen Gras vor dem Eingang des Wissenschaftsmuseums. Ringsherum sind grell orangefarbene Blütenblätter verstreut, ein paar Kerzenstümpfe stehen im Rasen, das weiß getünchte Papp-Gerippe leuchtet in der Nachmittagssonne. Keinerlei Inschrift ziert den knöchernen Dinosaurier, in seiner Beiläufigkeit wohl eine der schönsten Metaphern zum mexikanischen Totentag, dem día de los muertos.

Die Nacht der lebenden Toten, das ist in Mexiko Jahr für Jahr eine wunderliche Fiesta. Dann nämlich kommen allerorten die Verstorbenen zu Besuch. In Wohnzimmern, Hauseingängen und auf den Friedhöfen, in Supermärkten und in Eingangshallen der Ministerien warten prall geschmückte ofrendas, die Gabentische, darauf, den Gästen aus der Unterwelt die Wiederkehr schmackhaft zu machen. Alles leuchtet von dicken Büscheln der orangefarbener Totenblumen, cempasúchil, Kerzenlicht und Weihrauchschwaden sollen den Seelen den Weg weisen. Zur Stärkung gibt es Wasser und Salz, frische Früchte und das knusprige „Totenbrot“ mit eigens aufgebackenen Knochen sowie Bastmättchen zum Ausruhen und Fotos zum Wiedererkennen – auf dass sich keine Menschenseele aus Versehen am falschen Altar niederlasse.

Am ersten November stellt man zuerst den Kinderseelen Küchlein und Krüge mit Kakao auf den Tisch, gegen Abend bekommen dann die Erwachsenen ihre Lieblingsspeisen gekocht. Neben feixenden Papp-Skeletten und zuckrig verzierten Schädeln, den calaveras, stehen oft auch ein Fläschchen Tequila oder die bevorzugte Zigarettenmarke bereit. Dass sie die Teller nicht mehr selber leeren können, wissen die Mexikaner wohl. An Farben und leckeren Gerüchen aber, davon ist man hier fest überzeugt, können sich auch die Seelen noch laben.

Und die scheinen mitunter recht irdische Vorlieben zu haben. So ist auf einer der verwitterten Grabplatten des Französischen Friedhofs neben cempasúchil, Zigaretten und calaveras auch eine Dose Coca-Cola und ein Gläschen Karamelcreme drapiert, beide vorsorglich geöffnet. Profan wirkt das nicht. Im Gegenteil, selten zuvor hat eine schnöde Cola-Dose so zärtlich dreingeschaut.

Diese sinnliche Allgegenwart des Todes reicht weit vor die christliche „Zivilisierung“ zurück. Nach aztekischer Vorstellung endete der Weg der Verstorbenen nicht in Himmel oder Hölle, sondern in verschiedenen „Regionen“. Wer wohin gelangte, hing nicht – wie in der Schuld- und-Sühne-Doktrin der Katholiken – vom Lebenswandel, sondern schlicht von der Todesart ab. So durften Krieger und beim Gebären gestorbene Frauen direkt zur Sonne auffahren, andere hingegen mussten eine etwas längere Reise durch die Unterwelt ins Totenreich Mictlan antreten. Mit der Kolonisierung verschmolz das Totenfest der Azteken mit dem Allerseelen der katholischen Eindringlinge – und heute zunehmend mit der realexistierenden Postmoderne des Landes.

So halten Schwule ihre nächtlichen Trauermärsche um die Aids-Toten seit ein paar Jahren unter der Schirmherrschaft von Doña Catrina, einem elegant gewandeten Diva-Gerippe mit Schlapphut und Federboa, ab. Auch diesmal schlendert die knöcherne Lady wieder im Parque México, dem kleinen Stadtpark in einem der Boheme-Viertel der Metropole, zwischen den weihrauchgeschwängerten Altären der Selbsthilfegruppen und Gesundheitszentren umher. Aus Bastkörben werden Gratiskondome verteilt, eine „Nonne“ erläutert Passanten soeben den prähispanischen Ritus („Wasser reinigt die Seele . . .“), während zwei Schritte daneben ein munterer Schnurbartträger anschaulich die Accessoires zum virensicheren Liebesspiel vorführt: „Auch in der Eichel lauert die Gefahr“, gibt er lauthals den Umstehenden zu bedenken.

Ein paar Kilometer weiter, am „Mutterdenkmal“: Zu Füßen einer gespenstisch beleuchteten Riesenmama, die ihren steinernen Säugling in den Armen hält, sind zwischen Kerzen und Seidenpapier ein paar Fläschchen Nagellack, Unterwäsche und abgegriffene Handtaschen arrangiert. „Utensilien der Weiblichkeit“, wie ein bärtiger Mittvierziger erklärt, die an „all die verzweifelten Frauen erinnern sollen, die an einer klandestinen Abtreibung gestorben sind“. Das sind in Mexiko, wo der Schwangerschaftsabbruch unter Strafe steht, jedes Jahr mehrere tausend. Die zaghaften Versuche der linken Stadtregierung, die strengen Gesetze etwas zu lockern, stoßen bei militanten Lebensschützern auf heftige Empörung.

Hingegen gleicht der Zócalo, die weitläufige Plattform inmitten der Altstadt, einem lärmenden Ameisenhaufen. Der Platz, das steinerne Herzstück der alten Aztekenmetropole wie auch des wuchernden Mestizen-Molochs, ist zur Feier der Totentage kurzerhand in einen riesigen Friedhof verwandelt. Schwaden von rosa Zuckerwatte liegen in der Luft, es riecht nach Weihrauch und frischem Mais. Einheimische wie Zugereiste spazieren staunend durch das blumengeschmückte Feld aus hunderten von Sandgräbern, in dem illustre MexikanerInnen und andere Weltbürger eine symbolische Ruhestätte finden. Hier „liegt“ der 1985 bei einem Erdbeben ums Leben gekommene Musiker ebenso wie die Schamanin Maria Sabina, neben Aristoteles, Cervantes oder „Humbold“. Hier hat paradoxerweise sogar der verhasste Eroberer Kolumbus sein Plätzchen. „Sieh mal“, flüstert ein junger Vater seiner kleinen Tochter ins Ohr und zeigt stolz auf eines der sandigen Quadrate, „da ist auch das Grab unseres besten Dichters.“

Der 1998 verstorbene Literaturnobelpreisträger Octavio Paz hatte schon 1950 in seinem berühmten „Labyrinth der Einsamkeit“ die paradoxe Lust seiner Landsleute am Tod, „diesem großen leeren Maul“, beschrieben. Amerikaner, Franzosen oder Engländer meiden schon das bloße Wort, „weil es die Lippen verbrennt“. Der Mexikaner hingegen, so Paz, „verhöhnt, streichelt und feiert den Tod, er schläft mit ihm, es ist einer seiner liebsten Spielzeuge und seine am längsten währenden Liebe“.

Tatsächlich zeugt das farbenfroh arrangierte Skelettgewimmel auf einer der Bühnen von so etwas wie zärtlicher Todesverachtung. Da tummeln sich Bettler und Bardamen, Indianerinnen und handyhaltende Yuppies, Fernsehreporter und Leierkastenmänner, sogar ein schwangeres Skelett ist dabei, das ein zusammengekrümmtes Miniaturgerippe unter den Rippen trägt. All das ist den MexikanerInnen, auch heute noch weit mehr als makabre Folklore.

Um den wahren Geist dieser Fiesta tobt auch in Mexiko längst der Kampf der Kulturen: calavera gegen calabaza, Totenschädel gegen Kürbisfratzen, der Charme von La Catrina gegen gruftigen Hexenschick. Denn zur fröhlichen Melancholie der Mexikaner gesellt sich seit ein paar Jahren der Retortengrusel des Halloween, dem schrillen Hexenkult aus den USA.

Traditionsbeflissene Mexikaner bezeichnen den Halloween als „kulturelle Verseuchung“. Selbst das Vereinsblatt der katholischen Kirche, bekanntlich auch aztekisch inspirierten Riten nicht eben wohlgesonnen – schimpft auf die „Unkultur“ und den „Angriff auf unsere Traditionen“. Dafür gäbe es durchaus Grund zur Gelassenheit: Wie eine kürzlich veröffentlichte Zeitungsumfrage enthüllt, bauen noch knapp die Hälfte aller Mexikaner zu Hause einen Gabentisch auf, über 70 Prozent besuchen ihre Toten auf dem Friedhof, und nur ein knappes Viertel erlaubt ihren Kids, sich schauerlich herauszuputzen. Und das tun diese dann mit sichtbarer Wonne. Bis in die frühen Morgenstunden wandeln, meist an der Hand ihrer übermüdeten Eltern, Furcht erregende Hui-Buh-Gespenster und Miniaturhexen durch die Straßen, Dreijährige sind als fette Kürbisse oder flauschige Riesenspinnen verkleidet, selbst Babys im Kinderwagen tragen blinkende Teufelshörnchen und grinsen zufrieden in die Nacht. Und wer wüsste schon zu sagen, wer oder was das wirkliche Mexiko ist?

Einen halben Block hinter dem Zócalo, im Rücken der wuchtigen Barockkathedrale und an der Seite des freigelegten Ruinenteppichs des Templo Mayor, trommeln und stampfen die „wahren“ Azteken. Nicht nur heute, jeden Tag im Jahr tanzen sie hier mit alten Federn auf den Köpfen und Muschelketten um die Knöchel. Nicht für Geld, oder höchstens gegen eine kleine Spende, sondern im Namen der mexicanidad, der Essenz alles Mexikanischen. „Die Mexikaner haben ihre Wurzeln längst vergessen“, wettert ein Mann mit langem Haar und muskulösem nackten Oberkörper den Schaulustigen ins Gewissen, auch das neuzeitliche Totenfest sei nichts als „künstlicher Tand“. Nach einem mit Inbrunst vorgetragenen Nahuatl-Gebet hält er noch eine Kassette mit prähispanischen Balladen zum käuflichen Erwerb in die Runde, „mal etwas anderes als Salsa und Mariachi“. Kurz danach kommt es auch hier zur Versöhnung der Kulturen. Ein kleines Monstermädchen läuft mit offenen Armen auf einen der halb nackten Muscheltänzer zu: „Onkel Pepe!“ Wie hatte Paz in seinem grandiosen Essay zur mexikanischen „Einsamkeit“ einst geschrieben? Der viel gerühmte Gleichmut der Mexikaner gegenüber dem Tod speise sich letztlich aus deren „Gleichgültigkeit“ gegenüber dem Leben, dem Lauf und dem So-Sein der Dinge. Das könnte sich heute, ein halbes Jahrhundert später, nun doch ein klein wenig geändert haben.