Die Stimmen der Großmütter

Für oder wider Nachzählung? Im Moment liegen die meisten öffentlichen Sympathien bei Al Gore

WASHINGTON taz ■ „Die Stimme meiner Großmutter verdient gezählt zu werden“, stand auf einem Plakat, dass eine junge Frau mit einer Hand hochhielt. Mit der anderen schob sie eine alte Dame in einem Rollstuhl. „Wenn meine Großmutter wählen konnte, wieso nicht deine“ stand auf einem anderen. In Palm Beach standen sich so erregte Demonstranten gegenüber.

Der Kampf um die Stimmen der Alten in einem Landkreis ist aber nur eine Facette dieser Wahl und gibt den Blick auf tiefer liegende Probleme frei. Im Landtag von Florida in Tallahassee kamen Schüler und Stundenden zusammen, um gegen die Behinderung vor allem Schwarzer bei der Ausübung ihres Wahlrechts zu protestieren. Die NAACP, die älteste Bürgerrechtsorganisation Amerikas, sammelt entsprechende Berichte und eidesstattliche Erklärungen.

Außerhalb Floridas ist man peinlich berührt bis amüsiert. Beim zeremoniellen Spatenstich für ein Weltkrieg-II-Denkmal in Washington am Samstag waren Worte der Verlegenheit zu hören: „Was denkt man bei euch?“, fragt Gennifer Jones, Tochter eines Bomberpiloten, einen britischen Offizier, „ist das Ganze nicht entsetzlich peinlich?“ Fidel Castro bot an, Wahlbeobachter bei einer möglichen Wahlwiederholung in einigen Counties zu entsenden. Ein Sprecher von Floridas Innenministerium fauchte zurück: „Wahlen sind nun mal ein kompliziertes Verfahren. Wer es einfach haben will, soll 60 Meilen südwärts fahren, da wird gar nicht gewählt.“

Ein Geschenk des Himmels nannte dagegen ein Politikprofessor an der American University in Washington das Durcheinander: „Das ist Staatsbürgerkunde live“. Selten hat er seine Studenten so engagiert erlebt wie in den letzten Tagen. Auch die Talkradios haben Hochkonjunktur. Während Politik in Amerika sonst nicht das Gesprächsthema in U-Bahnen und Kneipen ist, wird zurzeit selbst an den Kassen der Supermärkte und in Fahrstühlen über den Wahlausgang geredet.

Unklar ist dabei noch, ob das Wahlergebnis das Bewusstsein für die Bedeutung jeder einzelnen Stimme gehoben oder eher das Gefühl bestätigt hat, dass Wahlen sowieso nichts bringen. Das vordringliche Thema allerdings ist zurzeit, ob neu und von Hand ausgezählt werden soll und in wie viel Wahlbezirken. Eine Blitzumfrage am Wochenende ergab, dass 72 Prozent der Bevölkerung der zeitaufwendigen Ermittlung des Siegers Vorrang vor schneller Entscheidung geben. Während es Bush bisher gelungen zu sein schien, Gore als schlechten Verlierer dastehen zu lassen, gerät er jetzt ins Hintertreffen. Seine juristischen Anstrengungen, die Nachzählung per Hand zu verhindern, verstoßen gegen das amerikanische Gefühl für Fairness. PETER TAUTFEST