Ein schöner Tod

■ In der Galerie Rabus war der Schauspieler Lars Rudolph in der spannenden Büchner-Adaption „Genetik Woyzeck“ zu sehen

Zwischen Alltag und Abgrund passt in diesen seltsamen Zeiten nicht einmal ein luftiger Furz. Heutzutage semmeln Ärzte so lange in den siamesischen Zwillingen Mary und Jodie herum, bis Mary der Vergangenheit angehört. Eltern zeugen ein zweites Kind, weil sie ein Ersatzteillager für ihre Erstgeburt benötigen. Im US-Bundesstaat Missouri wird bei einer demokratischen Wahl ein Toter zum Senator gewählt, ohne dass bekannt geworden wäre, dass halluzinogene Drogen in Missouri zum normalen Frühstück gehören. Und im TV? Macht schließlich weltweit Herr Dünnpfiff einen Großteil des Programms und Familie Dummbatz hockt wie blöd davor: Verdrehte Welt, in der selbst die Rinder nicht mehr alle Sinne beisammen halten können, was sie nicht davor rettet, völlig durchgedreht in die Boulette zu wandern.

Wer wollte da noch sagen, der Woyzeck sei der Sonderling. Der Woyzeck! Woyzeck versteht halt bloß die Welt nicht mehr, diese Welt, in der Ärzte sezieren, Brutalos regieren und Klugscheißer räsonnieren, in der der schmale Weg zum begehrten Anderen minenübersät ist und das, was der Pfaff' als Seele preist, einer modrigen Schlangengrube gleicht. Woyzeck, Georg Büchners tumber, guter, tragischer Held, ist ein moderner Mensch. Einer, der sprachlos stotternd am eigenen Abgrund steht und zu erklären sucht, wieso ihm dort so schwindelig wird. Harriet Maria Böge und Peter Meining haben Woyzecks Verlorenheit auf die Spitze getrieben. In ihrer eindrucksvollen Inszenierung „Genetik Woyzeck“ sitzt die Titelfigur ganz allein auf einem weißen Sofa, umringt von Bildschirmen, Monitoren und Kameras. Der Hauptmann, der Doktor, die geliebte Marie – nur noch als schwarz-weiße Leinwandprojektionen sind sie präsent, begleiten in 27 Einspielungen mal wild gestikulierend, mal in stoischer Ruhe Woyzecks Weg hin zum Mord an Marie. Der Tod kommt als Bildstörung daher. Dunkle Leinwände, graue Bildschirme und eine sonor brummende Tonanlage bezeugen im virtuellen Zeitalter das gewaltsame Ableben eines Menschen, den die BesucherInnen in den Räumen der Galerie Rabus eh nur noch als Medienfigur kennen gelernt haben.

Konsequenterweise haben Böge/Meining Woyzecks GefährtInnen mit Medienprominenz besetzt. Eva Mattes, Otto Sander, Udo Lindenberg, Nick Cave, Hanna Schygulla und zwei Dutzend weitere Berühmtheiten flackern in Übergröße über Woyzecks Kopf herum. Den einzigen Menschmensch spielt Lars Rudolph, knautschgesichtiger Max-Ophüls-Preisträger und nicht nur deshalb eines der großen Talente des deutschen Films. Sein Woyzeck lässt niemanden ungerührt: Große, flehende Augen, sparsame, gehetzte Bewegungen, eine zarte Stimme, die im Laufe des Stücks vor Verzweiflung schreit.

Das Dresdener Regieduo macht Woyzeck zum Objekt medialer Deformation. Mit Handkamera und Taschenlampe leuchtet Rudolph im wahrsten Sinne des Wortes seine Leibesöffnungen aus, projiziert grotesk verzerrte Bilder seiner selbst auf die Bildschirme, entblößt sich total und gibt doch bis zuletzt nicht das preis, was ihn am Abgrund seiner selbst schwindelig macht.

Mit den technischen Mitteln der Medienwelt verknüpft „Genetik Woyzeck“ virtuos zwei gegenläufig scheinende Zeitphänomene: Die Lust, vor Millionenpublikum sein Innerstes preiszugeben geht einher mit dem stetigen Verlust von Empathievermögen. Der Terror der Intimität macht nicht empfindsamer. Im Gegenteil: Im TV-Gerät sieht ein Opfer aus wie das andere, und früher oder später landen wir doch alle im lustigen Musikantenstadl.

„Ein schöner Mord. Wir haben schon lange keinen so schönen mehr gehabt“, dürfen der SAT1-Meyer und manch anderer Bildschirmhero noch Woyzecks Mordtat in betroffener Begeisterung kommentieren. Stimmt ja auch: Ein schöner Mord war's, und der Woyzeck hatte längst den Raum verlassen. Und ewig flimmern die Bildröhren. Franco Zotta