Die Leisetreterin

Im unübersichtlichen Arsenal des bundesdeutschen Tagtraumlebens gebührt ihr der Ehrenplatz: der Tante vom Lande – archetypische Randfigur und zugleich unsichtbares Zentrum, fürsorgliche Wächterin des verlorenen Paradieses und Dame ohne Unterleib. Nahaufnahmen aus dem Reich des Unpersönlichen

von MICHAEL RUTSCHKY

Meist lebt unsereins ja in der großen Stadt und ist vom Leben auf dem Lande unendlich weit entfernt. Aber auch wer in Neumünster oder Neuss oder Landshut aus Berufsgründen sich aufzuhalten hat, kennt ein Draußen. Sommers fährt man gern mit dem Fahrrad darin herum; manche Gewässer eignen sich als Badeseen, und der eingespielte kulturpessimistische Diskurs weiß von den Landgasthöfen zu berichten, die noch vor ein paar Jahren so prachtvolle Mahlzeiten anboten, während heute ... „Heute kriegt man auch beim Ochsenwirt in Neckargemünd nur das gepünzelte Trüffel-Düddeldü!“

Die ländliche Mahlzeit im Dorfkrug, deren Pracht durch den Spottpreis noch gesteigert wird, gehört einerseits natürlich in die reiche Ikonografie des Landlebens, die es uns als verlorenes Paradies vorzuspiegeln pflegt (als hätten die Leute nicht seit Jahrhunderten gute Gründe, vom Land in die Stadt zu ziehen: „Stadtluft macht frei“).

Die prachtvolle ländliche Mahlzeit spielt aber, so scheint mir, auch aus einem anderen Grund im Tagtraumleben der BRD eine bedeutende Rolle. Wenn man genau hinschaut, wer sie einem eigentlich auftischt – „damit du mal wieder ordentlich isst“ –, wird man auf die Tante stoßen, die Tante vom Lande.

Sehr viele von unsresgleichen haben sie. Zuweilen ist die steinalte Frau noch am Leben; oft existiert sie nur als Erinnerung: die Tante Emma unserer Freundin Jutta, die der Familie, als sie 1944 aus Berlin entfloh, ein paar Zimmer in dem Bauernhof zur Verfügung stellte, den sie im Sauerland betrieb. Befremdlich fromm war sie vor allem, kann Jutta erzählen; zuletzt hörte man von ihr während des Golfkriegs gegen Saddam Hussein: Tante Emma gratulierte zum Geburtstag und erhoffte das Wiedersehen im Paradies, denn jetzt beginne ja, wie prophezeit, die Schlacht von Armageddon, auf die das Jüngste Gericht folgt ...

Meine eigene Tante Emma sah man nur in der Kirche, wenn das familiale Zeremoniell es erforderte, bei Hochzeit, Taufe, Konfirmation. Sonst ähnelten sich die Umstände haargenau. Auch meine Familie war am Ende des Krieges aufs Land geflüchtet, in weiser Voraussicht der Wohnungs- und Nahrungsprobleme; auch meine Tante Emma konnte Wohnräume zur Verfügung stellen sowie Lebensmittel, die ihr Garten und die kleine Landwirtschaft hervorbrachten – während der väterliche Teil so vieler anderer Flüchtlingsfamilien, wie immer wieder erzählt worden ist, „hamstern“ gehen musste, ein demütigendes Betteln und Tauschen bei den Bauern der Umgebung, das unterdessen in die familialen Heldensagen der Nachkriegszeit eingegangen ist („und dann kriegte Vater für den echten Perser bloß ein Kilo Butter“).

Wollte man die Tante vom Lande malen, das ungeschminkte Gesicht, das Haar schlicht und praktisch frisiert, die Kleidung schmucklos, wie es der älteren Frau ziemt – die Tante vom Lande wäre festlich von Lebensmittelattributen umkränzt. Das Glas frische Milch, das rituell zu einem fixen Zeitpunkt des Tages Schluck für Schluck auszutrinken ist; die schweren Kuchen mit Unmengen Eiern, Zucker und Sahne, aus deren Teig sich das Kind immer wieder Zeigefinger zum Abschlecken greifen darf; die monumentalen Sonntagsbraten, die nach dem kolossalen Familienkochbuch zubereitet wurden, in das Generationen von Tanten ihre Rezepte geschrieben hatten. Dazu das jahreszeitliche Obst, von dem der Knabe sich frei bedienen durfte, was ihm die Querelen des Kirschen- oder Äpfel- oder Zwetschgendiebstahls ersparte, denen die Kumpels immer wieder ausgesetzt waren; die kräftig durchgeräucherten Würste sowie der Hinterschinken, in dem noch der Knochen stak und von dem der Onkel zum Abendbrot mit dem gefährlich scharfen Messer dicke Scheiben heruntersäbelte.

All das wird von der nostalgierenden Erinnerung sogleich zum Goldenen Zeitalter verklärt, und so muss ich wenigstens festhalten, dass dem Kind der Hinterschinken nicht schmeckte: zu scharf. Außerdem ekelte sich das Kind vor dem Schimmel, der den Schinkenlaib außen überzog. Dass der Schimmel ungefährlich sei, ja den Wohlgeschmack steigere, wie der Onkel dröhnte (stets reden die Onkels vom Lande zu laut), das glaubte ich nicht. Auch das regelmäßige Schlachten gehört hierher, ein ebenso üppiges wie unheimliches Fest, dem die Tante vom Lande präsidierte. Das tote Schwein wurde kopfüber an das Hoftor genagelt und der Länge nach aufgeschnitten, so dass die Eingeweide haltlos herausrollten, wovor sich die Kinderschar eifrig schaudernd versammelte.

Merkwürdigerweise kann die Tante vom Lande, obwohl sie so intim mit Ernährung verknüpft ist, unmöglich als Mutter vorgestellt werden. Bei der Tante Emma meiner Freundin Jutta waren die Kinder schon aus dem Haus. Der meinen war zwar der immer zu laut redende Onkel beigegeben, doch handelte es sich um ihren Bruder, und entsprechend waren die beiden kinderlos.

Ich könnte nun mit der Beobachtung fortfahren, dass, einer kleinen Recherche zufolge, dieser Typus Tante vom Lande keineswegs, wie man denken möchte, vorzüglich in der Nachkriegszeit vorkommt, wo städtische Familien massenhaft aufs Land strömten. Augenscheinlich ist diese Tante vom Lande ein Archetypus. Mein Vater verbrachte viele Ferien – wie das Familienalbum lehrt – seiner Berliner Kindheit um 1900 bei einer Tante Lieschen, die in Senzig bei Königs Wusterhausen eine kleine Landwirtschaft betrieb; und unsere Freundin Rosa, eben vierzig geworden, kann liebevoll von ihrer Tante Hethe erzählen, die im Schwarzwald residiert und sie, Rosa, von der Kindheit bis heute für die Widerwärtigkeiten entschädigt, die sie regelmäßig von ihrer bösen Mutter erleidet. Und wie steht’s um Tante Leonie, bei der Marcel Prousts „Marcel“ als Kind seine Sommerferien verbrachte, fern von Paris?

Doch statt den Archetypus auszuarbeiten, möchte ich anhand von meiner Tante Emma noch ein bisschen genauer über ihre Ländlichkeit berichten, die sie frappant von gleichaltrigen Damen aus der Stadt unterschied.

So besaß meine Tante Emma, was in der Nachkriegszeit streng verboten war, einen Armeerevolver. Einmal durfte ich ihn in die Hand nehmen und seine finster glänzende Funktionstüchtigkeit bewundern, während meine Tante Emma seinen Zweck erklärte. Wenn der Iwan mit seiner Roten Armee über die Elbe, Werra und Fulda kommt und unsere kleine Stadt besetzt, wird sie sich mit dem Revolver entleiben. Denn man weiß ja, wie der Iwan mit den Frauen gleich welchen Alters umspringt ... Der Landbewohner, seit Generationen an seinen Lebensort und dessen Gewohnheiten gebannt (handgeschriebenes Familienkochbuch), muss doch stets darauf gefasst sein, dass eine marodierende Soldateska über ihn hereinbricht, unpersönliche Erinnerungen an den Dreißigjährigen Krieg.

Statt der heftigen Frömmigkeit, der die Tante Emma meiner Freundin Jutta oblag, fand sich bei der meinen ein kräftiger, aber gründlich unterdrückter Antisemitismus. Kaum je kam meine Tante Emma auf die Juden zu sprechen – denn die Juden hatten ja im Krieg gesiegt, und man konnte nie wissen, wie sie ihren Einfluss jetzt geltend machen würden. Deshalb schwieg man besser. In den Dreißigerjahren hatte ihre Familie von einheimischen Juden, die vor den Nazis fliehen wollten, allzu billig Häuser und Grundstücke erworben, und jetzt waren tüchtige Nachzahlungen fällig.

Auch diesen Antisemitismus meiner Tante Emma möchte ich für etwas Unpersönliches halten, ein Bauelement der ländlichen Lebensweise (die wir ja mit guten Gründen abgestreift haben). Bekanntlich stellten die Juden – „der Fremde, der kommt und bleibt“, nach der trefflichen Definition Georg Simmels – oft den Händler, über den der Bauer mit den fernen Märkten kommunizierte; und so konnte man ihrer Habgier und ihren Machenschaften die unverständlichen Preisschwankungen zuschreiben, denen das Vieh und die anderen Produkte unterlagen. Eine richtig ehrwürdige Feindschaft verband die Familie meiner Tante Emma übrigens mit der Familie des örtlichen Müllers – auch der Müller rechnet traditionell zu den unehrlichen Berufen: Man liefert das gute Getreide ab und erhält ein Mehl zurück, von dem allein der Müller weiß, woraus es noch besteht.

Restlos persönlich scheint dagegen das leidenschaftliche Interesse, das meine Tante Emma zeit ihres Lebens dem Adel und den Königshäusern der Welt entgegenbrachte, ein Interesse, das die regelmäßige Lektüre von Frauenzeitschriften, dann das Fernsehen befriedigte. Es war so stark, dass meine Tante Emma sogar ihre eingefleischte Xenophobie überwand, um an der Heirat des japanischen Kronprinzen Akihito (mit einer Bürgerlichen!) Anteil nehmen zu können; ebenso verfolgte sie die Heirat der schönen exotischen Sirikit mit dem (leider einäugigen) König von Thailand. Beinahe schon in die Kulturgeschichte der BRD geschafft hat es die Begeisterung meiner Tante Emma und ihresgleichen für Kaiserin Soraya; die Kinderlosigkeit, derentwegen der Schah von Persien sie aus der Ehe entließ, bedrückte auch meine Tante Emma jahrelang.

Die Hauptperson ihres inneren Pantheons freilich stellte der Herzog von Edinburgh. Wie souverän er seine Rolle als Prinzgemahl spielte – man vergleiche dagegen Prinz Claus der Niederlande mit seinen unheilbaren Depressionen! –, wie er stets pflichtgemäß hinter seiner Frau, der Königin von England, zurücktrat und trotzdem seine männliche Würde bewahrte, das imponierte meiner Tante Emma ungemein. Eine schwere Krise erlebte das Verhältnis, als Prinz Philip seinen Sohn – Charles, Prinz of Wales – so rücksichtslos zu der Heirat mit Diana Spencer drängte und Charles’ anderweitige Herzensbindungen glatt ignorierte.

Freilich kann man auch an diesem Bauelement meiner Tante Emma das Unpersönliche erkennen, dem das Leben der Landbevölkerung so deutlich unterliegt. Die ausgedehnte Familie meiner Tante Emma unterhielt einen Zweig, der in der kleinen Stadt Battenberg an der Eder residierte. Die Mutter des Prinzen Philip war eine geborene Battenberg – auch wenn das gar nicht mehr mit der kleinen Stadt zusammenhing: Nach dem Ersten Weltkrieg hieß die englische Adelsfamilie dann Mountbattan. – So hat meine Tante Emma, indem sie eifrig die Hofberichte der Frauenillustrierten über den Herzog von Edinburgh studierte, vielleicht bloß den Treuepflichten genügt, die sie als Untertan ihrem Fürsten, zumindest in ihrer Imagination, schuldete.

Wie gesagt, wir Städter haben diese Lebensformen hinter uns gelassen. Das Leben auf dem Land erscheint uns in der Erinnerung als immer währende Sommerfrische. So lohnt die genauere Inspektion, wer – vor allem in Gestalt der Tante Emma – unser inneres Pantheon diesbezüglich bevölkert.

MICHAEL RUTSCHKY, 57, lebt als Alltagsbeobachter und Essayist in Berlin. Sein jüngstes Buch erschien unter dem Titel „Lebensromane. Zehn Kapitel über das Phantasieren“, Steidl Verlag, Göttingen 1998, 304 Seiten, 38 Mark