Mythos und Mensch

Die eine kann nicht aufhören, von ihm zu reden, die andere will nichts mehr erzählen – und die Stadt München lässt sich Zeit mit der Würdigung

aus München UTA ANDRESEN

Wäre nicht der Friseur Werner gewesen, sie wären sich wohl nie begegnet. Gesehen haben sich die beiden dennoch nicht oft. Vielleicht drei, vier Mal. Dabei wohnen sie nur wenige Häuser auseinander. Und es gibt dieses Thema, das sie einen müsste. Doch wenn Rosa Lehmann (91) und Hella Schlumberger (57) sich heute in der Türkenstraße beim Einkauf über den Weg laufen, folgt nur kurzes Nicken. Grüß Gott, und weiter. Manchmal, wenn Rosa Lehmann einen schlechten Tag hat, nicht einmal das.

Leere Bierdosen unter der Holzbank, ein brauner Pullover lässt schlapp einen Ärmel über die Planken hängen – Reste einer alkoholgewärmten Novembernacht. Es war an diesem Platz, auf halber Strecke zwischen ihrem und dem Haus der Schlumberger. Eine Mordsgaudi haben sie letztes Jahr um dieses Stück Pflaster gemacht. Sogar der Herr Oberbürgermeister war da. Und da kam diese Frau, die Schlumberger, die so viel redet, und hat sie, die Rosa Lehmann, nach vorn gezogen. Ein paar Worte wolle der Herr Oberbürgermeister mit ihr reden, weil doch das Attentat auf den Hitler sich zum 60. Mal jährte. Dabei war sie gar nicht hergerichtet, wollte nur mal schauen, was sie vorhaben, auf dem Platz, der seit drei Jahren nach Georg Elser heißt.

Rosa Lehmann. Gebeugter Rücken, gefaltete Wangen, gekrümmte Finger. Ein Alter, in dem man froh ist, noch selbst Wollrock und Bluse knöpfen, noch selbst die Wohnung mit den paar Möbeln putzen zu können. Im Wohnzimmer hängt ein selbst gemalter Gutschein, sorgfältig gerahmt. Einmal München – Bad Tölz und zurück. Die Enkel haben ihr den Ausflug geschenkt. Mit achtzehn kam sie „vom Gebirg“ nach München, und viel rausgekommen ist Rosa Lehmann seither nicht. Doch manchmal genügt der Radius einer Straße, um Dinge zu erleben, denen man immer aus dem Weg gehen wollte.

„Was hat denn der Platz mit dem Elser zu tun?“, fragt Rosa Lehmann. Nicht viel, sicher. Nur so viel, dass Johann Georg Elser vier Häuser weiter, in der Türkenstraße 94, bei ihr zur Untermiete gewohnt hat. „Als ich das Taferl rausgehängt hab, hat mein Mann gesagt: ‚Schau sie dir gut an, die Leut.‘ Und ich hab gesagt: ‚Anschauen kann ich sie mir, aber reinschauen kann ich nicht.‘ So kam der Elser zu uns. Wir haben nichts dafür können, dass der bei uns gewohnt hat.“ Drei Monate lang, von August bis Oktober 1939, in denen der Schreiner jeden Abend an dem kleinen Platz mit der alten Kastanie vorbeigegangen ist, auf dem Weg zum Bürgerbräu, auf der anderen Seite der Isar. Die leere Aktentasche unter dem Arm. Und jeden Morgen an dem Platz vorbei, auf dem Weg zu Lehmanns. Bauschutt in der Aktentasche. „Einmal wollte ich das Zimmer aufräumen, da ist der Elser im Bett gelegen“, sagt Rosa Lehmann. Sie zu ihrem Mann: „Der schlaft am Tag, der ist in der Nacht nicht da.“ Aber er war „kein Schlawiner“, also beschließen die Lehmanns, dass der Elser und das, was er tut, sie nichts angeht.

Und so hat es Rosa Lehmann bis heute gehalten. „Das Beste ist, man hält sich zurück.“ Irgendwann muss sie es gelernt haben. Vielleicht, als sie am 9. November 1939 erfährt, dass die Bombe, für die Georg Elser die Säule neben Adolf Hitlers Rednerpult aufgemeißelt hat, am Tag zuvor um 13 Minuten ihr Ziel verfehlt hat. Vielleicht, als die Gestapo kommt, sie verhört und ihren Mann mitnimmt ins Wittelsbacher Palais ein paar Straßen weiter und ihn irgendwann vor Weihnachten wieder freilässt. Vielleicht, als der Krieg vorbei ist, die Nazis entmachtet und Mann und Bruder gefallen sind. „Es gibt immer noch solche und solche, Nazis und andere – und man selber ist der Hanswurst. Ich sag nichts mehr.“ Rosa Lehmann hat Scherereien genug: zwei kleine Kinder, sie muss als Zugehfrau arbeiten. Was interessiert da der Elser? Ist doch tot, in Dachau erschossen, im April 1945 noch.

Und doch will das gar nicht aufhören, immer wieder kommen Leute und sie soll erzählen vom Elser: die Nachbarn, der Friseur, die Schlumberger, die Journalisten. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie satt ich es habe.“ Nur so viel: „Ein ganz normaler Mensch war das, ein Handwerksgeselle.“ Zum Abschied sagt Rosa Lehmann an der Wohnungstür: „Die Geschichte nehm ich mit hinüber.“

Wer den Weg schräg über die Türkenstraße nimmt, der wird wieder darauf stoßen: auf dieses Problem mit dem Reden, auch wenn es sich hier anders darstellt als bei Rosa Lehmann. Hella Schlumberger redet viel. Wie eben jemand spricht, der sich in einer Sache auskennt und seit Jahren darum bemüht ist, dass alle davon erfahren. Nur: Die, die Hella Schlumberger erreichen will, wollen nicht mehr hören, was sie zu sagen hat.

Würde Rosa Lehmann in diese Wohnung kommen, würde sie wohl zuerst eines tun: aufräumen. Papiere auf dem Boden, in der Küche, auf dem Wohnzimmertisch. Und auf die Idee, diesen lila Samtrock mit den blauen Blumen und diese schwarze Jacke mit dem Puschelkragen anzuziehen, käme Rosa Lehmann wohl auch nicht. Und auch nicht darauf, sich mit Ende fünfzig noch die Haare rot zu tönen.

Hella Schlumberger ist Publizistin, weit gereist und viel unterwegs. Romanistik studiert. Für die taz aus Spanien berichtet. Die Spinola-Affäre mit Günter Wallraff aufgedeckt. Abdullah Öcalan für ein Buch interviewt. In ein Gästebuch „für ein gleichberechtigtes Kurdistan“ notiert und dafür zehn Tage in der Türkei inhaftiert.

Kein Nein, kein Ja

1968. In Berlin wird auf Rudi Dutschke geschossen. In München wird das Springer-Haus gestürmt. Und Hella Schlumberger, frisch aus der schwäbischen Provinz angekommen, ist mit dabei, „die Giftspritze Bild wenigstens für ein paar Stunden zu stopfen“. Zu der Zeit standen noch Teile des Bürgerbräu. Freunde zeigen ihr den Ort. Und die Trümmer hinterlassen Spuren bei Hella Schlumberger. „Seitdem ist das da“, sagt sie. Und es bleibt, obwohl der Bürgerbräu längst dem Kulturzentrum Gasteig, einem architektonischen Unglück aus Beton und Backstein, gewichen ist.

Wollte man das Verhältnis zwischen den Vertretern der Stadt München und Hella Schlumberger mit einem Wort beschreiben, würde wohl dieses treffen: zäh. „Kein Nein, kein Ja“, sagt sie. „Bis 1982 hat die Stadt für diesen mutigen Mann gar nichts getan.“ Bis ein CSU-Mann, ein Jude, auf die Idee kam, an der Stelle, an der die bombenzerfetzte Säule des Bürgerbräu stand, eine Bronzeplatte einzulassen. Seither scheint das Engagement der Referenten und Räte erschöpft. Nicht einmal an dem Haus, in dem Elser bei den Lehmanns wohnte, hängt eine Plakette. Warum diese Müdigkeit bei der Würdigung eines deutschen Widerstandkämpfers? Hella Schlumberger: „Elser war das wandelnde schlechte Gewissen, der Beleg dafür, dass ein einfacher Mann, der nur Zeitung gelesen hat, voraussehen konnte, dass Hitler Krieg bedeutete – und etwas dagegen unternahm.“

Drei Jahre! Drei Jahre, seit 1994, nichts anderes als Anträge in Bürgerversammlungen, Briefe an den Kulturausschuss, Telefonate mit Bauräten. Dann hatte Hella Schlumberger es satt. Und sann auf Abhilfe: Man nehme ein Stück Holz, blaue und weiße Farbe, die Cousine und einen Freund von der Initiative „Aktion Maxvorstadt“ und lasse den ein zünftiges Georg-Elser-Platz-Schild malen. Alsdann das Ganze abgelichtet, auf eine Postkarte gedruckt, hintendrauf geschrieben, „Wir wollen den Georg-Elser-Platz heuer und hier!“, und in der Straße verteilt. Zu adressieren an: Bau- und Kulturreferat, Marienplatz. Das war wohl doch zu öffentlich. 1997 bekommt Hella Schlumberger ihren Elser-Platz.

1998. Hella Schlumberger fragt an, ob denn die Stadt München nicht die Elser-Wanderausstellung vertragen könnte. Man habe bereits eine Widerstandsausstellung im Rathaus, heißt es. Sie schlägt einen anderen Ort vor. Dann heißt es, Elser sei zu bekannt. „Da hab ich dem Kulturreferenten gesagt: ‚Ich bin doch nicht euer Depp!‘“ Das war wohl doch zu deutlich. Hella Schlumberger bekommt ihre Elser-Ausstellung.

1999. Hella Schlumberger und der Aktionskünstler Wolfram Kastner holen sich die Erlaubnis, an vier Orten in der Stadt das Elser-Zitat „Ich wollte durch meine Tat nur größeres Blutvergießen vermeiden“ in weißer, wasserlöslicher Farbe sprühen zu dürfen. Am Bahnhof, wo Elser ankam. In der Türkenstraße, wo er wohnte. Am Gasteig, wo der Bürgerbräu stand. An der Brienner Straße, wo die Gestapo ihn verhörte. Dann stoßen die beiden auf einen Stein vor der Staatskanzlei. Schwarzer Granit ehrt dort die deutschen Widerstandskämpfer – nur Elser nicht. Das ergänzt der Künstler. Nur, dass das Ganze vor Gericht landet. Das Vergehen: „gemeinschädliche Sachbeschädigung.“ Das Urteil: tausend Mark Geldbuße.

„Eine Nervensäge“

2000. Hella Schlumberger möchte ein Denkmal für Elser. Auf dem Platz. Und da sagt doch dieser Kulturreferent, dieser feine Mann, zu ihr: Denkmäler, Frau Schlumberger, die hat man heute nicht mehr. Professor Doktor Julian Nida-Rümelin kann sich nach mehreren Briefen eine Ausschreibung in Sachen „künstlerische Akzente“ gut vorstellen. Als Hella Schlumberger sich nach dem Stand erkundigt, schreibt er am 5. Oktober zurück: „Wenn ich eine solche Zusage gegeben habe, dann wird diese auch umgesetzt. Weitere Briefe Ihrerseits sind dafür nicht erforderlich.“ Wer nachfragt, dem sagt er: „Die Frau Schlumberger soll nicht so unruhig sein.“

Christian Ude war da schon deutlicher. Zu Beginn des Jahres bekommt Hella Schlumberger den Ernst-Hoferichter-Preis der Stadt München für ihr Buch über die Türkenstraße. Sie spricht über Abdullah Öcalan und Georg Elser, fragt, ob die Kurden die Juden von heute sind. Oberbürgermeister Ude nennt sie „eine Nervensäge“ und erklärt, mehr Hella Schlumbergers würde die Stadt „verwaltungstechnisch nicht verkraften“. Das nennt sich dann Laudatio. Und „ein Mitglied des Bezirksausschusses“ schreibt ihr anonym „Dieser feige ‚Widerstandskämpfer‘ hat unter Schonung seines eigenen Lebens aus dem Hinterhalt mit einer heimtückischen Bombe sieben unschuldige Menschen, darunter eine Bedienung, in den Tod gerissen.“ Hella Schlumberger jedenfalls zieht einen Schluss: „Wir wollen einen Georg-Elser-Preis ausloben – ohne die Stadt, ohne diese Referate.“

Im Laufe der Jahre ist Georg Elser so etwas wie ein Familienmitglied von Hella Schlumberger geworden, wenn man so etwas überhaupt von jemanden sagen kann, den man nie kennen gelernt hat. „Manchmal fühl ich mich auch wie ein Einzelkämpfer.“ Auch. Ganz wie Elser einer war. Es gibt ein Fotoalbum von der Platz-Einweihung. Der Hans, der Cousin zweiten Grades, war da. Der Manfred auch, der uneheliche Sohn. Auf dem Sekretär steht ein Foto von Georg Elser mit dessen Freundin, Manfreds Mutter. Eigentlich wollte der Manfred mit seiner Frau ja auch letztes Jahr, zum 60. Jahrestag des Attentats, kommen. Doch dann rief „die Isolde, seine Frau, an und sagte, er sei gestorben.“ Und hat nicht der uneheliche Bruder der Großmutter von Elser eine Walburga Schlumberger geheiratet?

Rosa Lehmann muss es ziemlich schnell gemerkt haben, damals vor sechs Jahren, als Friseur Werner dafür sorgte, dass Hella Schlumberger in ihre Wohnung kam und sie für das Buch über die Türkenstraße interviewte. Dass Georg Elser für Hella Schlumberger alles andere als ein normaler Mensch ist. Vielleicht kommt daher dieses Unverständnis, diese Distanz. Wie sollen sie sich auch verstehen? Wenn die eine spätestens im Krieg lernte, nichts zu sagen? Und die andere spätestens 1968 übte, alles herauszuschreien?