Tanker verströmt erstes Gift

Bergungsarbeiten an der havarierten „Ievoli Sun“ müssen unterbrochen werden: Aus dem Wrack des Schiffs dringt hochexplosives und Krebs erregendes Styrol ins Wasser. Chef des Ölkonzerns Shell übernimmt die Verantwortung

aus Paris DOROTHEA HAHN

„Es war einfach sehr schlechtes Wetter“: Mit dieser fatalistischen Erklärung versuchte gestern der neapolitanische Reeder Domenico Ievoli jede Verantwortung für den Untergang seines Chemietankers von sich zu weisen. Die „Ievoli Sun“ mit 6.000 Tonnen teils hochgiftigen Chemikalien an Bord, die seit Dienstag in 70 Meter Tiefe vor dem nordfranzösischen Kap La Hague auf dem Seeboden liegt, sei ein neues Schiff mit hoch qualifizierter Besatzung gewesen, erklärte der Reeder. Die italienische Klassifizierungsgesellschaft „Rina“, die nicht nur der „Ievoli Sun“, sondern auch dem im vergangenen Dezember vor der Südbretagne gesunkenen Tanker „Erika“ die Seetauglichkeit bescheinigt hatte, nannte der Reeder eine „völlig normale Gesellschaft“.

Am Unglücksort, der nur 15 Kilometer von der atomaren Wiederaufarbeitungsanlage von La Hague und 19 Kilometer von der Kanalinsel Alderney entfernt ist, stieg gestern eine stinkende Wolke auf: Styrol, das aus einem Leck in mindestens einer Kammer mit einem Volumen von 442 Tonnen drang. Das Krebs erregende Gift sei so explosiv, dass das Leck nicht geschlossen werden könne, hieß es bei der Präfektur im nordfranzösischen Cherbourg. Die Katastrophenhelfer mussten ihre Tätigkeit unterbrechen. Schiffe im Ärmelkanal wurden aufgefordert, die Unfallstelle großräumig zu umfahren. „Wir sind sehr beunruhigt über die möglichen Gefahren“, sagte der Chef des Shell-Konzerns, Christian Balmes, für den das Styrol verladen worden war. „Wir übernehmen unsere Verantwortung, wenn es eine gibt.“

Nach Recherchen des französischen Wochenblatts Canard enchaîné hatte der Schiffsinspektor des Hafens von Rotterdam bereits Ende Oktober defekte Ventile an den Behältern festgestellt. Schon zuvor war das Schiff in den Niederlanden zweimal wegen technischer Mängel aufgefallen und zu Notreparaturen festgehalten worden. Von Rost an Bord und von einem schlechten Allgemeinzustand des erst 1989 gebauten Tankers berichtete auch der französische Kommandant der „Abeille Flandre“, die versucht hatte, die havarierte „Ievoli Sun“ in den Hafen von Cherbourg zu schleppen.

Die Bewohner der Hafenstadt zeigten gestern kaum verhohlene Wut. Während eines dreiviertelstündigen Besuchs von Staatspräsident Jacques Chirac am Katastrophenort schimpften sie auch gegen „die Politiker, die seit der Erika nichts getan haben“.

Die Schlechtwettererklärung des Reeders entlockte ihnen nur bitteres Lachen. Stürme gibt es an der französischen Nordküste mehrfach im Jahr. Sie werden von den Meteorologen vorausgesagt. Ein Fischer: „Wer ein Schiff hat, das Wind nicht standhält, muss im Hafen bleiben.“

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