Schlange mit tausend Köpfen

Die baskische Separatistengruppe ETA führt seit Jahresanfang eine brutale Anschlagskampagne. Ihre Kommandos sind jünger und skrupelloser denn je

aus Madrid REINER WANDLER

Das Sirenengeheul der Notarztwagen reißt nicht ab. 15 ausgebrannte Pkw-Wracks säumen die Avenida de Badajoz im Nordosten der spanischen Hauptstadt Madrid. Während die Notärzte in einem eiligst aufgeschlagenen Feldlazarett direkt am Tatort Verletzte behandeln, werden aus einem Fahrzeug, dessen Nummernschild die Anfangsbuchstaben PMM trägt – was für „ministerialer Fuhrpark“ steht –, drei völlig verkohlte Leichen geborgen. Eineinhalb Stunden nach dem Anschlag, der um 9.12 Uhr im Umkreis von mehr als einem Kilometer zu hören war, steht fest: Die baskische Separatistengruppe ETA hat den Militärrichter am Obersten Gerichtshof José Francisco Querol Lombardero ermordet. Die beiden anderen Opfer sind Fahrer und Leibwächter des 70-jährigen Richter-Generals. Da ein Linienbus zur gleichen Zeit die Autobombe passiert hatte wie das Fahrzeug des Richters, wurden über 30 seiner Passagiere verletzt, sechs von ihnen schwer.

Seit Aufkündigung des einseitigen Waffenstillstandes durch die ETA Ende letzten Jahres schlug die Gruppe viermal in Madrid zu. Dabei bedienten sich die Separatisten immer mit Sprengstoff gefüllter Pkws. Am 21. Januar hatte die ETA erstmals nach 16 Monaten Waffenruhe gemordet. Die Bombe im Süden der Hauptstadt kostet einen Oberst der spanischen Armee das Leben. Im Sommer explodieren zwei Bomben im Zentrum, ohne dass dabei Todesopfer zu beklagen waren. Der Anschlag von gestern ist der schlimmste in der Reihe.

Jetzt muss auch Innenminister Jaime Mayor Oreja eingestehen, was er lange geleugnet hatte: Aller Wahrscheinlichkeit nach verfügt die ETA in der spanischen Hauptstadt nicht nur über „einige Strukturen“, sondern über ein gut organisiertes Kommando. Noch im Sommer schrieben die Ermittlungsbehörden die Aktionen in Madrid einem „umherziehenden Kommando“ zu. Doch die Theorie platzte, als die Anschläge auch nach der Verhaftung von zwei Etarras nicht abrissen, die angeblich von Zeit zu Zeit für ihre Aktionen von auswärts angereist waren. Jetzt gehen die Ermittlungsbehörden davon aus, dass ein neues Kommando in Madrid über mehrere Wohnungen sowie über mindestens eine Garage verfügt, in der die Sprengsätze in die Autos eingebaut werden. Die ETA hat damit erstmals seit Sommer 1997 wieder eine feste Gruppe in Madrid. Das Informantennetz, das die Opfer ausspioniert, dürfte das alte sein. Denn diese legal lebenden ETA-Mitglieder konnten nie ausgemacht werden.

„ETA wird sich auf die Arbeiten zur Verteilung von Material und der Aufrechterhaltung der Strukturen beschränken“, hieß es im Kommunique zu Beginn der Waffenruhe am 18. September 1998. Die Wahrheit sieht anders aus: Die Separatisten nutzten die 16 Monate, um ihre Reihen und ihre Waffenlager aufzufüllen. Im September letzten Jahres drangen zwischen zehn und zwölf Vermummte in eine Sprengstofffabrik in der Bretagne ein und stahlen 8.500 Tonnen hochexplosives Material sowie Zünder und Zündkabel. Wenige Tage wurden im südfranzösischen Pau zwölf mutmaßliche ETA-Mitglieder als Täter verhaftet. Doch 3.000 Kilo Sprengstoff bleiben bis heute verschwunden.

„Mindestens sechs Tonnen hat die Gruppe noch immer“, ist sich der Vorsitzende der gemäßigten Baskisch-Nationalistischen Partei (PNV) Xavier Arzalluz sicher. Damit verfügt die ETA über mehr Sprengstoff als in den Jahren vor der Feuerpause. Und das, obwohl die französische Polizei Mitte April zufällig in Bayonne und Boucou auf zwei Garagen stieß, die der ETA als Lager für fast 1.000 Kilo Sprengstoff dienten und mehrere Sprengstofftransporte auf Spaniens Autobahnen abgefangen wurden. Die Räume waren nach Beginn der Waffenruhe angemietet worden. Auch ein Beweis dafür, dass Organisation ihre Infrastruktur erneuern konnte.

Um die geschwächten Kommandos wieder zu stärken, beorderte die Führung nach Lateinamerika geflohene Mitglieder zurück. Die meisten haben langjährige Erfahrung im Untergrund. Zwar fiel der Großteil von ihnen im September der französischen Polizei in die Hände, doch sie haben, scheint es, ihre Arbeit längst getan. Und die bestand nicht in der Teilnahme an Anschlägen, sondern in der Ausbildung des Nachwuchses in allen Bereichen, vom Pistolero bis zum Dokumentenfälscher oder Bombenbauer.

Die ETA-Rekruten kommen aus den Reihen der radikalen, nationalistischen Jugendlichen, die Wochenende für Wochenende mit Molotowcocktails ihren „Straßenkampf“ gegen alle führen, die ihnen nicht ins nationalistische Konzept passen. Sowohl zwei Verhaftete in Zaragoza im Sommer dieses Jahres als auch die Mitglieder des erst vor wenigen Wochen zerschlagenen Kommandos im südspanischen Sevilla stammten aus der radikalen Jugendorganisation Jarrai. Die vier Angehörigen des Kommandos in Bilbao, die sich beim Versuch, eine Autobombe zu überführen, im August selbst in die Luft sprengten, hatten politisch ebenfalls in der ETA-nahen Jugendorganisation angefangen.

Die neue ETA ist somit jünger, aber auch radikaler und skrupelloser denn je. Opfer kann jeder werden, der „dem Baskenland seine eigene Stimme nicht zugesteht“. Von Kommunalpolitikern spanienweit agierender Parteien über Journalisten, Vollzugsbeamten, Richter, Staatsanwälte bis hin zu Militärs fallen immer mehr Menschen in diese Kategorie.

Für das Innenministerium stellt dies ein ernsthaftes Problem dar. Der ständig wachsende Kreis derer, die Opfer eines Attentates werden könnten, macht Personenschutz zumehmend schwerer. Die ETA nutzt dies gnadenlos aus. Mittlerweile sind 19 Tote seit Jahresbeginn zu beklagen.

Die ETA-Gewaltkampagne für die Unabhängigkeit hat die baskische Gesellschaft tief gespalten. Die nichtnationalistischen, spanienweit agierenden Parteien, die knapp die Hälfte der Bevölkerung hinter sich wissen, verteidigen das Autonomiestatut und die spanische Verfassung. Immer wieder gehen Zehntausende gegen die ETA auf die Straße und brechen damit das Klima der Angst, das die Separatisten und ihr Umfeld geschaffen haben.

Doch die ETA ist weit von Isolation entfernt. Ihr politischer Arm Herri Batasuna (HB) erzielte bei den letzten Autonomiewahlen 17,6 Prozent – 223.000 Wähler. Auch wenn nicht alle von ihnen die jüngste Gewaltwelle befürworten, offene Kritik an der ETA gibt es bei HB und ihrem Umfeld kaum. Das würde als Verrat an denen empfunden, „die sich am meisten für die Sache aufopfern“.

Innenminister Jaime Mayor Oreja setzt allein auf polizeiliche Härte. Stolz verkündet er einen Fahndungserfolg nach dem anderen. Die gesamte ETA-Führung sei in Frankreich verhaftet worden, erklärte das Innenministerium im September nach der Festnahme der alten Garde. Als PNV-Chef Arzalluz dies bezweifelte, hagelte es Kritik aus Madrid. Doch mittlerweile zeigt sich immer klarer: Die ETA ist mehr und mehr in den Händen des selbst herangezogenen radikalen Nachwuchses.

Zwar fallen die jungen unerfahrenen Kommandos immer schneller der Polizei in die Hände. Doch die Gewaltkampagne der ETA stoppt dies nicht. Denn die Politik der „baskischen Indifada“ – der Mobilisierung der Jugend zur Gewalt auf niedrigem Niveau –, die sowohl ETA als auch Herri Batasuna in den letzten Jahren propagierte, hat den bewaffneten Separatismus zu einer Schlange mit tausend Köpfen werden lassen.