Die zweite Potenz des american dream

■ Kaum jemand hat sich um den US-Erzähler Sherwood Anderson so verdient gemacht wie der Bremer Übersetzer Jürgen Dierking. Am Sonntag will er in einer Lesung das Publikum mit seiner Begeisterung anstecken

Jemand müsste mal die „Simpsons“ (1990) mit „Winesburg, Ohio“ (1919) des wichtigen amerikanischen Erzählers Sherwood Anderson zusammenbringen. Jürgen Dierking tut das nicht. Vor allem, weil zum Fernsehen wenig Zeit bleibt. Ansonsten gibt es wohl kaum jemanden in der Bundesrepublik, der sich so um das Werk Andersons verdient gemacht hat. Nicht umsonst findet sich in der jüngst erschienen ersten Einzelausgabe der „Reihe Erzählungen aus dem Kleinstadtleben Ohios“ ein ebenso rührender wie berechtigter Dank an den Übersetzer und Mitarbeiter des Bremer Literaturkontors als Andersons „deutschem Fürsprecher“. Der 1876 geborene Autor starb, wie Dierking gerne erzählt, im Jahre 1941, weil ihm ein Martinioliven-Holzstöckchen den Magen perforierte. Könnte von Matt Groening sein – und Grund genug für ein Gespräch, zumal er am Sonntag aus Andersons „Winesburg, Ohio“ liest.

taz: Wann sind Sie Anderson begegnet?

Jürgen Dierking: Ein Jahr nach dem Abitur traf ich in Tübingen einen Buchhändler, der mich nach meinen Lieblingsautoren fragte. Während ich vergessen habe, was ich damals antwortete, weiß ich noch, dass er auf meine Gegenfrage zwei Namen nannte, die ich bis dahin noch nie gehört hatte, nämlich Boris Vian und Sherwood Anderson. Beide habe ich daraufhin, so unterschiedlich sie sind, ziemlich frenetisch zu lesen begonnen. Es war der Sur-Realismus, der damals in der Bundesrepublik ja erst wiederentdeckt wurde, der mich faszinierte.

Als „Winesburg, Ohio“ 1919 erschien, wie wurde es aufgenommen?

Viele haben es als „hässlichen Naturalismus“ verunglimpft. Wenige haben aber doch gesehen, dass sich etwas mehr abspielt als der Naturalismus vorangegangener Generationen.

Was ist das Revolutionäre an diesem Text?

Das Aufbrechen der Romanform. Die Auflösung der stringent erzählten Handlung in die Episoden, die dieses Buch ausmachen und von denen jede einzelne auch für sich stehen könnte. Und doch ist noch ein Reflex der alten Romanform insofern vorhanden, dass Ort und Zeit identisch sind. „Winesburg, Ohio“ ist sicher eines der wirkmächtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Es geht gleich bei Zeitgenossen wie Hemingway, Faulkner, Steinbeck oder Wolfe los, deren Anfänge ohne dieses Buch kaum zu denken wären. Wichtig ist die Einsicht, dass man nicht in New York zu leben braucht, um literaturfähig zu sein, sondern dass der Mittlere Westen ein eigenständiges Recht hat, Schauplatz von Literatur zu sein.

Trotzdem gibt es in jeder Erzählung im Band „Winesburg, Ohio“ eine Stelle, an der eine der Figuren diese Kleinstadt verlässt. Warum?

Winesburg ist einfach zum Fliehen. Weil es den Bewohnern kein wie auch immer geartetes Heimatgefühl vermitteln kann. Was wiederum mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen zu tun hat. Es herrscht offensichtlich – oder vielleicht gerade nicht auf den ersten Blick ersichtlich – ein enormer psychischer Druck auf die Menschen. Und „Fluchten“ könnte man auch als das Oberthema bezeichnen, das Andersons Biografie geprägt hat.

Auf einem Tribute für Andy Warhol gibt es von Lou Reed und John Cale den wunderbaren Satz „There's only one good thing about a small town: You know, that you want to get out.“ Wäre da eine Verbindung zu „Winesburg, Ohio“ denkbar – eine Art Schlüsselroman?

Darauf wäre ich nicht gekommen. Die Leute, die er beschreibt und in Winesburg ansiedelt, hat er in Chicago kennengelernt. Trotzdem: Sein Verhältnis zur small town ist ambivalent und verändert sich auch im Laufe der Jahrzehnte. Eines der letzten Bücher ist wiederum eine Hommage an die small town. Die Segnungen der Großstadt werden von Sherwood Anderson mit gemischten Gefühlen betrachtet. Das Pendeln zwischen beiden Welten bestimmt Leben und Werk dieses Mannes.

Sie haben Sherwood Anderson einmal als „Erzähler des amerikanischen Traums“ bezeichnet.

Das Pendeln hat die Funktion, dass Menschen voller Sehnsucht, Traum, Verlangen in die Metropolen aufbrechen und, wie der Übersetzer Hans Erich Nossack gesagt hat, zumeist mit gebrochenen Flügeln zurückkehren. Es ist schon die zweite Potenz des amerikanischen Traums, die das Scheitern einschließt.

Fragen: Tim Schomacker

Jürgen Dierking liest am Sonntag, 29. Oktober, um 11 Uhr im Hotel Maritim, Hollerallee 99, aus Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“