Zivilgesellschaft Ost

Auch in den neuen Ländern gibt es eine engagierte Bürgergesellschaft. Anders als im Westen jedoch wird nicht Klientelismus betrieben, sondern Zuwanderern geholfen

An gesellschaftlichen Projekten mitzuarbeiten bedeutet für viele Ostdeutsche einen Zugewinn an Freiheit

In der westdeutschen Öffentlichkeit neigt man dazu, den Osten als zivilgesellschaftliches Niemandsland zu sehen – und das gerade im Zusammenhang mit der Diskussion über den Rechtsradikalismus. Die beliebte These: Es fehle dort immer noch jenes zivile Engagement, das doch das Lebenselixier einer Bürgergesellschaft ist.

Gemessen an der Euphorie im Herbst 1989 fällt eine Bilanz der real existierenden Demokratie in den neuen Bundesländern auf den ersten Blick tatsächlich ernüchternd aus. Damals entdeckten Hunderttausende den Zauber des Politischen, indem sie sich selbst organisierten und innerhalb weniger Wochen das Kartenhaus der SED zum Einsturz brachten. In einem kurzen historischen Zeitfenster konnte dabei eine Freiheit des politischen Handelns erfahren werden, die auch in einer funktionierenden Demokratie die Ausnahme ist. Heute, so der öffentliche Eindruck, ist nicht nur dieser Zauber des Politischen verflogen, sondern es scheinen im Gegenteil Privatismus, Apathie und dumpfe ausländerfeindliche Parolen den ostdeutschen Alltag zu bestimmen.

Dabei wird allerdings übersehen, dass die gegenwärtige Zurückhaltung der Ostdeutschen, Mitglieder in einer Partei zu werden oder öffentliche Wahlämter zu übernehmen, keinesfalls ein prinzipielles Desinteresse an der Politik signalisiert. Allerdings: Sie drückt eine gewisse Reserve gegenüber den vom Westen adaptierten Institutionen aus. Darüber hinaus wurden Zeit und Kraft gebraucht, um den persönlichen Umbruch zu bewältigen. Schließlich engagierte man sich am ehesten dort, wo der Zusammenbruch der alten Strukturen erhebliche Probleme im Alltag geschaffen hatte: Nach einer neueren empirischen Untersuchung von Infratest sind etwa 30 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung bürgerschaftlich tätig –vor allem in den Bereichen Kultur, Gesundheit und Soziales. Die Möglichkeit, gesellschaftliche Projekte mitzugestalten, wird von den Engagierten ausdrücklich als Zugewinn an Freiheit beschrieben.

Sobald gezielte finanzielle und organisatorische Starthilfe von privater oder staatlicher Seite angeboten wird, stößt man sogar auf eine außerordentliche hohe Bereitschaft zur Mitwirkung. So hat die Robert-Bosch-Stiftung mit 21 Millionen Mark in den Jahren 1993 bis 1998 über tausend Projekte in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Gesundheitsfürsorge und Kultur sowie in der Seniorenbetreuung gefördert. Bereits nach ein- bis dreijähriger Förderung gelang es, 75 Prozent der Projekte ohne jegliche Stiftungsmittel fortzuführen.

Dass Ostdeutschland kein zivilgesellschaftliches Niemandsland ist, verdankt sich nicht zuletzt dem Impuls von 1989. Anfang der Neunzigerjahre, als viele dachten, die Bürgerbewegungen hätten ihre historische Mission erfüllt, kam es zu einer zweiten Welle der gesellschaftlichen Selbstorganisierung. Auf lokaler und regionaler Ebene entstand ein breites Geflecht von Bürgerinitiativen, Verbänden und Organisationen, die an der Bewältigung von neuen sozialen, ökologischen und politischen Problemen mitwirken wollten: so unter anderem in lokalen Agenda-21-Foren, an themenorientierten Runden Tischen (etwa zum Umgang mit rechtsradikalen Tendenzen) oder in soziokulturellen Zentren, die sich der Integration von Zuwanderern widmen.

Zwar fällt die Dichte und Breite dieses zivilgesellschaftlichen Netzwerks im Vergleich zu den alten Bundesländern immer noch wesentlich schwächer aus; gleichwohl ist das Spektrum dieser intermediären Organisationen – so eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin – auch im Osten kontinuierlich gewachsen und konnte sich innerhalb kürzester Zeit an die veränderten politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik anpassen.

In Ostdeutschland besonders ist die enge Verzahnung zwischen den Verwaltungen und den Akteuren des zivilgesellschaftlichen Sektors. Behörden und Verwaltungen sind nicht zuletzt aufgrund ihres begrenzten Personals und ihrer knappen Finanzen darauf angewiesen, bei konkreten Problemen konstruktiv mit den bürgerschaftlichen Initiativen zu kooperieren. In Leipzig etwa haben insgesamt sechzig Mitglieder aus gesellschaftlichen Initiativen sowie aus städtischen Institutionen und Unternehmen gemeinsame Ziele im Rahmen des lokalen Agenda-21-Prozesses definiert und Projekte entworfen, an deren Umsetzung in 13 thematisch ausgerichteten Arbeitsgruppen gearbeitet wird. Die Zusammenarbeit ist zwar nicht immer konfliktfrei, aber zwischen den Repräsentanten aus der städtischen Verwaltung, den lokalen Unternehmen und den Akteuren des Dritten Sektors gibt es weder Berührungsängste noch Abgrenzungskämpfe.

Ein anderes Beispiel für erfolgreiche Kooperationen ist der Rostocker Verein „Dien Hong – Gemeinsam unter einem Dach“, der 1992 nach den fremdenfeindlichen Ausschreitungen vor einem Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen gegründet wurde. Zunächst diente der Verein dazu, die Integration der in Rostock lebenden Vietnamesen zu begleiten. Doch unterstützt durch den Ausländerbeauftragten der Stadt und anderer Förderer entwickelte sich die Initiative zu einer vietnamesisch-deutschen Begegnungsstätte. Die Mitarbeiter leisten Kultur- und Bildungsarbeit und bieten eine allgemeine Sozialberatung für die in der Region lebenden Vietnamesen.

Seit 1989 entstand lokal und regional ein Geflecht von Bürgerinitiativen, Verbänden und Organisationen

Im Juni 1994 wurde der Verein vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung beauftragt, ein Modellprojekt durchzuführen „zur beruflichen und sozialen Integration von ehemaligen DDR-Vertragsarbeitnehmern und zur Verbesserung des Zusammenlebens von Deutschen und Ausländern“. Seither ist der Verein ein erster Ansprechpartner für kommunale sowie Landes- und Bundesbehörden, wenn es um gezielte Projekte zur beruflichen und sozialen Integration von Migranten im Raum Rostock geht. Im Juli 1997 hat der Verein seine Projektarbeit auf alle ausländischen Nationalitäten erweitert, die in der Region leben.

Der Erfolg solcher Projekt kommt aber nicht nur durch die gelungene Kooperation zwischen Behörden und Initiativen zustande, sondern auch durch die spezifische Qualität des bürgerschaftlichen Engagements in Ostdeutschland. Ideologische Unvoreingenommenheit, problemorientierte Politik jenseits taktischer Parteiinteressen und Gemeinschaftsfähigkeit statt reiner Interessenpolitik: Diese Eigenschaften grenzen die ostdeutschen Initiativen positiv von einer Politik ab, die alternativen Klientelismus betreibt. So geht es zum Beispiel in der Arbeit mit Migranten nicht um die Idealisierung und Pflege eines Multi-kulti-Status, sondern um die Vermittlung von Kenntnissen und Kompetenzen, die die Integrationschancen von Zuwanderern verbessern. Ein Fazit des politischen Engagements der Ostdeutschen fällt vor diesem Hintergrund weit besser aus, als es der öffentliche Eindruck im Westen bislang vermittelt.

LOTHAR PROBST