Spirituelle Arbeit in einer Männerwelt

Das Recht am eigenen Song: Als Songwriterin schrieb Jill Scott den Hit „You got me“ der HipHop-Gruppe The Roots. Trotzdem kannte sie bislang keiner. Mit ihrem Debütalbum rückt sie nun in den inneren Kreis der Soul-Renaissance vor

„Wer ist denn Jill Scott?“ Das fragten sich Ende 1998 die Verantwortlichen in den Räumen von MCA Records in New York. The Roots, Philadelphias ewige HipHop-Hoffnung, hatten ein Stück abgeliefert, dessen Hitpotenzial niemandem verborgen bleiben konnte, „You got me“ sollte es heißen. Doch was den Herren in den Businessanzügen nicht ins Konzept passte, war die junge Autorin, der sie es zu verdanken hatten: Gänzlich unbekannt, hatte sie bis dato doch nicht einmal eine eigene Platte produziert.

Ein bekannter Star, so viel war klar, würde den Song zum Hit machen und den Roots zum lange prophezeiten Durchbruch verhelfen. So kam es, wie es kam: Als Jill Scott, die Sängerin, aber auch die Songautorin, von einer kleinen Kanadatournee zurückkehrte, war ihr Part mit der Kollegin Erykah Badu besetzt und die Version im Kasten.

„Niemand hatte mir etwas gesagt, bis ich wieder zu Hause war. Ich war enttäuscht und sehr unglücklich“, sagt Jill Scott, die in einer Berliner Hotelsuite sitzt und gar nicht unglücklich aussieht. Damals hätte sie auch ihr Veto einlegen können: „Es war ja zu einem großen Teil mein Song. Aber ich sagte mir: Okay, nun wirst du eben dafür respektiert, dass du Songs schreibst.“

„You got me“ wurde künstlerisch wie kommerziell der erwartete Erfolg. Ein Grammy für die beste HipHop-Performance gab es für „The Roots“, die Platte verkaufte sich fast eine Million Male. „Wenn du einen Song schreibst, der von einer Grammy-Gewinnerin gesungen wird, bekommst du eine andere Art von Credibility“, sagt Jill Scott. „Aber es ist ja nicht so, dass ich nicht beides haben will: Anerkennung für meine Stimme und meinen Geist.“

Die bekommt sie jetzt: Kaum ein Jahr nach der Hysterie um „You got me“ und der Welttournee mit den Roots beantwortet sie die rhetorische Frage „Who is Jill Scott?“ spitz mit ihrem genau so betitelten Debütalbum. „Erykah Badu, Macy Gray, Angie Stone: Step aside. This is Jill Scott“, titelte ein englisches DJ-Magazin über die 28-Jährige, die laut Selbstauskunft noch vor kurzem ihren Lebensunterhalt als „Retail-Chick“ in einem Klamottenladen verdiente. Bei aller Bescheidenheit ist sich Jill Scott aber durchaus bewusst, mit ihrem ersten Album ohne Umweg direkt in den Inner Circle der so genannten Soul-Renaissance vorgerückt zu sein. Und ob sie nun eine Nebenbuhlerin unmissverständlich auffordert, ihren Mann in Ruhe zu lassen, ein Gedicht über die Liebe ihres Lebens oder die Freuden guten Oralverkehrs rezitiert oder einfach nur atmet und seufzt – ihre konsequente Verknüpfung von Spoken-Word-Dichtung und klassischem Songwriting ist state of the art. Allerdings, betont Jill Scott, sei sei sie keineswegs immer die selbstbewusste, starke Frau gewesen, als die sie heute erscheint: „Aber vor ungefähr zwei Jahren wachte ich eines Morgens auf und wusste, dass ich nun eine erwachsene Frau bin, die in der Lage ist, ihre eigene Sprache zu sprechen und ihre eigenen Gedanken auszudrücken. Ich hatte dieses Gefühl, nicht länger von Männern oder dieser Musikindustrie verwirrt und aufgefressen zu werden, und wusste, dass ich bereit bin. Es ist wichtig in dieser Industrie, erwachsen zu sein. Deine Seele und dein Geist müssen intakt sein. Denn Musik ist spirituelle Arbeit.“ CORNELIUS TITTEL

Tour: 5. 11. Hamburg, 6. 11. Berlin