Kein Boom jenseits des Hudson

Internetfirmen in „Upstate“ New York bieten nur wenigen Arbeit, viele werden mangels Qualifikation von der neuen industriellen Revolution überrollt

aus Rochester PETER TAUTFEST

New Yorker sehen die Welt, wie Saul Steinberg sie gezeichnet hat: Jenseits des Hudson beginnt die Prärie, und dahinter ist gleich der Pazifische Ozean. Jenseits der Metropole jedoch gibt es noch eine Welt, in der die Städte Namen wie Canajoharie und Irondequoit, Skaneateles und Canandaigua, Cataraugus und Buffalo tragen. Oder mit stolzem Anklang an vergangene Welten Rome, Syracuse oder Ithaca heißen.

New York City ist „Downstate“. „Upstate“ ist so gut wie alles andere. Auch Rochester. „Ohne New York City wäre der Bundesstaat wie Indiana“, sagt Jack Spula, Redakteur beim City Paper in Rochester. Damit spielt er auf den Konservatismus New Yorks an. Wer durch die Agrarregionen entlang der Bundesstraße US 20 fährt, dem fallen im Oktober außer dem in allen Rottönen sich verfärbenden Laub des Ahorns vor allem die vielen Plakate mit dem Konterfei Rick Lazios auf. Lazio ist der Kandidat der Republikaner bei den Wahlen zum US-Senat, die wie die Präsidentschaftswahlen am 7. November stattfinden. Den Namen Hillary Clintons, seiner demokratischen Kontrahentin, findet man meist durchgestrichen im roten Kreis.

Zeugnisse der Gründerzeit

So intensiv ist die Abneigung gegen die Frau des amtierenden US-Präsidenten Bill Clinton, dass die Leute in „Upstate“ solche Schilder mit Filzstiften malen. „Der Hass, der mir entgegenschlägt, wenn ich meinen Hillary-Button trage, ist erschreckend“, sagt Josephine Perini, die vor 20 Jahren aus New York City nach Rochester kam und Führungen durch Haus und Museum jenes Mannes macht, der Rochester auf die Landkarte setzte: George Eastman, Begründer des Kodak-Imperiums.

So konservativ das ländliche New York ist – in den alten Industriezentren entlang des ehemaligen Erie-Kanals versprechen sich die Leute mehr von Hillary Clinton als von Rick Lazio. „Lazio ist aus Long Island. Der hat erst durch den Wahlkampf davon gehört, dass Upstate New York in einer Krise steckt“, sagen Leute wie Josephine Perini und Jack Spula, aber auch Unternehmer wie Ed Steiner und Tom Day, die in ganz anderer als politischer Hinsicht entgegengesetzte Ansichten über die Mittel und Wege zur Wiederbelebung der Wirtschaft des Bundesstaats haben.

Wer den New York State Thruway den Erie-Kanal entlang nach Westen Richtung Buffalo und Niagara fährt, wo der Erie-See in den Lake Ontario stürzt, sieht neben der Autobahn hier und da flache Werkshallen stehen. „Kein Vergleich zu dem, was man entlang der Dulles Toll Road von Washington DC zum Flughafen oder entlang der Interstate 270 in Maryland sieht. Da löst ein Hightech-Betrieb den anderen ab“, sagt Ed Steiner. „Der Wirtschafts- und Highttech-Boom findet im Süden des Landes statt, in Nord- und Süd-Carolina sowie rund um Washington, in Texas und natürlich in Kalifornien. New York ist zu kalt und mit dem Makel des ‚Rostgürtels‘ und hoher Steuern behaftet.“

Die wenigen Industrieansiedlungen entlang der Autobahn sind dabei noch die Sonnenseite der Wirtschaft im Norden. Wer vom Thruway runter in die alten Industriestädte Utica, Syracuse, Rochester und Buffalo fährt, kommt in doppelter Hinsicht aus dem Staunen nicht mehr heraus. Hier künden stolze Industriebauten von gründerzeitlicher Größe.

Die leeren Straßen und mit Brettern vernagelten Fenster jedoch lassen ahnen, dass „die gute alte Zeit“ längst vorbei ist. In Rochester und Buffalo haben die berühmten Architekten Frank Lloyd Wright und Louis Sullivan gebaut, das Rathaus von Buffalo ist das schönste und imposanteste Art-Deco-Gebäude auf dem amerikanischen Kontinent. Zu diesen Gebäuden würden die Amerikaner Wallfahrten unternehmen, stünden sie in Chicago.

Hier in Upstate New York stehen viele davon leer und verfallen. In einem Bericht des Bundeswirtschaftsministeriums rangiert das Wirtschaftswachstum von Upstate New York an letzter Stelle. Anders als der „Rostgürtel“ in Ohio und Michigan hat sich Upstate New York noch kaum erholt. Der Abwanderung der Industrie aus dem Staat ist der Umzug des Einzelhandels aus den Innenstädten gefolgt. Im Zentrum von Rochester kann man nirgends einkaufen. „Viele Familien müssen für 40 Dollar mit dem Taxi zu einem der neuen Einkaufszentren außerhalb der Stadt fahren“, empört sich William Johnson, der schwarze Bürgermeister von Rochester. „Mein wichtigstes Wahlversprechen ist, Einzelhandel und Gewerbe in die Stadt zurückzuholen.“

Rochester, das war Kodak

Ed Steiner hat seine Firma Robotics von Rochester in das winzige Victor verlegt. „Die Steuern sind hier niedriger, es gibt keine Parkplatzprobleme für Lieferanten, und ich kann auf dem Land wohnen.“ Das Haus, in dem die Steiners leben, ist zwischen Kornfeldern und Wäldern derart versteckt, dass man es ohne genaue Wegbeschreibung nicht findet. Und was nachts hier rauscht, ist der Wind in den Bäumen, nicht der Verkehr.

Ed Steiner ist den Weg vieler Unternehmer in und um Rochester gegangen. Rochester – das war die Stadt, in der George Eastman vor über hundert Jahren seine Box Camera entwarf und ihr den Namen Kodak gab. Hier baute Rank Xerox sein Hauptwerk, Bausch & Lohm fertigte Linsen, Gläser sowie optisches Zubehör, und Gleason produzierte Autoteile. „Wer bei Kodak anfing“, erzählt Josephine Perini, „von dem sagte man, dass nicht nur er, sondern auch seine Kinder und Kindeskinder im Dienste Kodaks sterben würden.“

Die Talfahrt begann, als Kodak Teile seiner Fertigung nach Mexiko verlegte und Teile seines Marktes an digitale Kameras und das Internet verlor. In diesem Herbst erregte Kodak mit der schlechten Nachricht Aufsehen, dass die Erträge für das vierte Quartal niedriger als erwartet ausfallen werden. Die renovierte Internet-Website, die auf der ersten Seite des Rochester Democrat & Chronicle vorgestellt wurde, wird das Blatt nicht dramatisch wenden.

„Von 70.000 Angestellten fiel die Belegschaft auf 28.000“, resümiert Josephine Perini in der Pause einer Führung durch die Eastmansche Villa, deren Anbau eine einzigartige Sammlung von Filmen (23.000) und Fotografien (eine halbe Million) beherbergt. „Die Einwohnerschaft der Stadt fiel von 335.000 auf 200.000“, ergänzt Jack Spula. Viele der Entlassenen machten allerdings eigene Betriebe auf. Ed Steiner kam von Rank Xerox. Er machte sich mit einer Technologie selbstständig, die er als Soldat bei der Air Force und der Nasa kennen gelernt und bei Rank Xerox weiterentwickelt hatte. „Wir waren immer eher eine Hightech-Stadt“, sagt Ed Steiner. Dafür macht Rochester just den Trend besonders deutlich, der alle urbanen Regionen Amerikas heimsucht. „Was es an Entwicklung gibt, geht nicht in die Städte, sondern in deren Umland“, erklärt Jack Spula.

„Die Stadt hat einiges zu bieten“, konzediert Ed Steiner. „Ich gehe gern ins Konzert, und das Rochester Symphonieorchester hat Weltrang. Die Eastman-Kunstschule und das neue Sportstadion sind Besuche wert. Aber wenn ich ehrlich sein soll, war ich im letzten Jahr ein, vielleicht zwei Mal in der Stadt“, so Steiner.

„Ich habe in der Abschlussklasse meiner Schule eine Umfrage gemacht“, ergänzt seine Frau Barbara, die an einer Vorstadtschule unterrichtet. „Die Mehrheit meiner Schüler war noch nie in der Stadt. „Eigentlich brauche ich die Stadt nicht“, sinniert ihr Mann. „Für mich würde sich nichts ändern, wenn sie morgen im Genesee River versinken würde.“

In Toronto spielt die Musik

„Was soll ich da draußen auf dem Land“, fragt sich dagegen Tom Day, der in einem der alten Gebäude in Rochester seine Internetfirma EZ Net aufbaut. Er gehört zu einer Gruppe von Unternehmern, von denen einige früher bei Kodak beschäftigt waren. Sie haben die Gewerbeflächen in dem alten und von der Stadt wiederhergestellten Fabrikgebäude mit Blick auf die Wasserfälle des Genesee River übernommen. „1.000 Quadratmeter Bürofläche kosten mich in diesem alten Lagerhaus lumpige 1.500 Dollar“, lacht Bryan Thomas. „Wenn ich Gäste habe“, ergänzt Neal Elli, „gehe ich mit ihnen in eine Kneipe oder ein Restaurant in der Stadt und nicht in einen dieser unsäglichen Schuppen draußen am Highway. Ich quartiere sie in einem Hotel mit Blick auf die Skyline ein statt in einem dieser Motels, die alle gleich aussehen.“

Und Tom Day: „Irgendwann werden es die Leute satt haben, in den wie provisorisch aufgestellten und ewig gleich aussehenden Büros aus Fertigbauteilen zu sitzen. Sie werden sich wieder nach der Stadt sehnen, wo die Angestellten mit ihren Laptops auch mal einen Nachmittag lang im Café arbeiten können. Das erhöht die Lebensqualität und die Loyalität der Angestellten.“

Was die neuen Internet- und Hightech-Betriebe an entlassenen Angestellten heute aufnehmen, ist allerdings nur ein Bruchteil dessen, was an Arbeitslosen derzeit von der neuen industriellen Revolution überrollt wird. „Viele, die früher bei den großen Unternehmen Kodak oder Rank Xerox Arbeit fanden, sind nicht gut genug ausgebildet, um in der entstehenden ‚Internet Alley‘ zu arbeiten“, sagt Tom Argust von der Stadtverwaltung in Rochester. „Die Fläche der Stadt Rochester beträgt nur fünf Prozent der Fläche, die Groß-Rochester einnimmt, sie beherbergt aber 75 Prozent der Armen.“

Mit Internetbetrieben in den hübschen alten Backsteinbauten des industriellen Zeitalters allein lässt sich die Renaissance der Städte nicht bewerkstelligen, sagt Jack Spula, der ursprünglich aus Niagara kommt. „Als ich klein war“, erinnert sich der Journalist des City Paper, „war Toronto am anderen Ufer des Ontario-Sees eine Kleinstadt. Buffalo dagegen galt als die Metropole der Region, von der es hieß, sie werde eines Tages sogar New York City in den Schatten stellen. Heute ist Buffalo eine verödete Stadt, und wer Stadtleben und Nightlife erleben will, fährt ins kanadische Toronto. Kanadas Geheimnis besteht allerdings in mehr als der Erhaltung und Renovierung alter Industriearchitektur. Kanada hat ein anderes Schul- und Gesundheitssystem, Kanada ist ein Sozialstaat. Davon redet in diesem Wahlkampf niemand.“