S. schmeckt wie eine alte Gummisohle

Solidarität ist abgetanzt wie der Regierende Bürgermeister. Außer Kurs wie die Ostmark. Sexy wie ein Gewerkschaftssekretär. Frisch wie eine Rede des Genossen Zwickel – vor allem aber bequem

von KLAUS HARPPRECHT

Das Wort schmeckt wie eine alte Gummisohle. Es klebt aber auch wie Kaugummi, den ein urgrüner Joghurtverkäufer auf seinem Sitzplatz in der Straßenbahn zurückgelassen hat. Es ist abgetanzt wie der Regierende Bürgermeister von Berlin. Außer Kurs wie die Ostmark. Inflationär verschlissen. So sexy wie die Freizeitjoppe eines Gewerkschaftssekretärs in Opladen. So frisch wie eine Rede des Genossen Zwickel zum 1. Mai. Vom Herzen zum Herzen sprechend wie die Ruhestands-poesie von Oskar Lafontaine.

Man gab sich eine Weile der Illusion hin, dass die Solidarność-Polen den Begriff gerettet hätten. Aber nun hängt er auch in Warschau herum wie eine schlappe Fahne, für die keiner aufs Dach klettern will, um das einst so stolz geblähte Banner einzuholen, ausgewaschen wie die Präsidentschaftskandidatur des armen Wałesa, den selbst seine priesterlichen Schatten aufgegeben zu haben scheinen.

Wir wissen es wohl: In Paris wird die solidarité (neben der Arbeit) von einer formidablen Ministerin verwaltet, von Madame Aubry, einer ehrgeiziger Dame (Tochter von Jacques Delors), die so säuerlich in die Welt schaut wie eine unterbezahlte Sozialhelferin in den Plattenbauten der Neustadt von Halle.

Jede Revolution reißt, das haben wir inzwischen begriffen, das Maul zu weit auf. Selbst die Franzosen werden nicht länger die Knie weich, wenn ihre Politiker tremolierend die republikanische Dreieinigkeit beschwören. Die Freiheit ist schwierig genug, die Gleichheit eher ein Alptraum, und mit der „Brüderlichkeit“ war es, das wurde offenbar, unter den Leuten, wie sie sind, und erst recht unter den Sozialisten nicht so weit her. Folglich zogen sie sich auf die Ersatzformel S. zurück.

1968 flatterte sie den Vorsängern der Bewegung und ihren Backup-Choristen wie Pionierfähnchen aus dem Mund. Unter den entfesselten höheren Töchtern und den füßchenstampfenden Söhnen des Bürgertums wurde es zur allabendlichen, frascatiseligen Pflicht, die Platte mit dem Kultgesang auf den Teller zu schmeißen: Vorwärts und nicht vergessen, beim Hungern und beim Essen, die So-li-da-ri-tät . . .

Der einstige FAZ-Herausgeber Johann Georg Reißmüller, ein wunderlicher Kardinal Ratzinger deutscher Politik, schmetterte das Lied mit anderen DDR-Hymnen zum Abschied von seiner Zeitung auf eine CD – was so verschmockt war, wie wenn Fritz J. Raddatz im Duett mit Carola Stern oder Monika Maron ein Repertoire von HJ-, BDM-, Jungmädel- und Pimpfliedern vortragen würde.

Weil das Wort heruntergekommen war und weil es die Verantwortung für den Nachbarn ganz und gar der „Gesellschaft“, in Wahrheit aber dem Staat aufhalste, rief Willy Brandt 1972 die englisch-amerikanische Vokabel compassion zu Hilfe, ja er wagte es, von „Barmherzigkeit“ und der Sorge für den Nächsten zu reden. Kurz: Er erinnerte an die persönliche Haftung für das Elend in unserem Lebenskreis. Die Ideologen und die Parteien (nicht nur die seine) zogen sich bald genug wieder auf die Phrase zurück, die unverbindlicher ist und vor allem bequemer. Dabei wird es wohl bleiben.