Kein Anwalt der Armen

Von wegen sozial: Mit der rot-grünen Steuerreform wird ein Neoliberalismus etabliert, der Bedürftigkeit ignoriert

von PETER GROTTIAN / WOLFGANG KASPER

Wie jetzt wieder die Lippen angesichts der Haushalts- und Benzinpreisdebatten gespitzt werden: Die „es nicht so dicke haben“ (Schröder), sollen sozial entlastet werden. Die kleinen Leute „haben die Schnauze voll“, verzehrt sich Stoiber. Selbst die zum Teil niedrigen Einkommen in der Speditionsbranche erfahren politische Anteilnahme. Doch Vorsicht ist geboten. Oft reklamieren Politiker soziale Ziele, um ganz andere Interessen zu bedienen. Nichts zeigt dies besser als die rot-grüne Steuerreform.

Die offizielle Botschaft lautete: Arbeitnehmer, Familien und Unternehmen sollen deutlich entlastet werden – und dies sozial gerecht. Gerade dieser Nachsatz ist wichtig: Neben der Sozialhilfe und den Sozialversicherungen ist es vor allem das Steuersystem, das – als strukturelles Instrument – Solidarität in der Gesellschaft organisieren soll. In der schlichten Theorie: Die Armen zahlen wenig, die Reichen viel, und dieses Prinzip wird durch die Steuerprogression noch verschärft.

Das Erstaunliche ist nun, dass die rot-grüne Steuerreform von fast allen tatsächlich als gerecht empfunden wird. Weithin wird die Selbstdarstellung der Regierung akzeptiert, dass sie sorgfältig eine soziale Balance austariert hätte. Dabei hat die Steuerreform ganz einseitig ökonomische Macht- und Einkommensinteressen bedient und einen neuen Typ des sozialdemokratischen und grünen Neoliberalismus etabliert, der die Entlastung der „bedürftigen Steuerzahler“ ignoriert. Diese soziale Schieflage wird bisher erfolgreich verschleiert.

Die oft kritiklose Nachbeterei der Eckwerte zur Steuerreform in der Öffentlichkeit und die paralysierte Rolle der CDU/CSU führte in den jüngsten Haushaltsberatungen nicht mehr zum Streit über die Reform an sich, sondern zum emotionsgeladenen Schlagabtausch über das, was dem Bürger durch die Ökosteuer und die erhöhten Benzinpreise noch in der Geldbörse bleibt. Rot-Grün ist kein Anwalt der Erwerbslosen, Sozialhilfeempfänger oder der Armen. Für jene, die zu wenig oder gar nichts verdienen und keine Steuern zahlen können, hat die rot-grüne Bundesregierung ohnehin nicht mehr zu bieten als die Ankündigung eines neuen Armutsberichts. Aber auch die „kleinen Steuerzahler“ profitieren nicht von der großen Reform.

Um dies zu belegen, lassen sich Zahlenbeispiele leider nicht vermeiden. Denn es dürfte gerade die Unübersichtlichkeit sein, die eine Debatte in der Bevölkerung bisher verhindert.

Also: Das Steuersenkungsgesetz wird nach Berechnungen des Bundesfinanzministeriums von 2001 bis 2006 mit insgesamt 249 Milliarden Mark zu Buche schlagen. Davon entfallen 90,3 Milliarden Mark auf die Unternehmenssteuern, 168,5 Milliarden Mark auf die Lohn- und Einkommenssteuern. Das könnte noch wie ein faire Balance zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern aussehen. Der zweite Blick macht indessen deutlich, dass die einkommensschwachen Steuerzahler nur mäßig entlastet werden.

Das beginnt schon damit, dass die Entlastungen für die Arbeitnehmer viel später folgen als für die Unternehmer. Bis 2002 summieren sich die Lohn- und Einkommenssteuersenkungen auf 33 Milliarden Mark. Die Reform der Unternehmenssteuern nimmt sich bis dahin sehr viel komfortabler aus: Sie beträgt 48,1 Milliarden Mark. Erst 2005/2006 werden die Zahler von Lohn- und Einkommenssteuern um insgesamt 135,5 Milliarden Mark entlastet. Das bedeutet: Die soziale Balance wird bis 2005/2006 verschoben – also auf das Ende der nächsten Legislatur! Wer weiß, was dann ist; es könnte der vorgezogene St. Nimmerleinstag sein.

Aber auch die Lohnsteuerentlastungen bis zum Jahre 2002 mit ihren bescheidenen 33 Milliarden Mark kommen primär der neuen Mitte, aber eben nicht den Einkommensschwachen zugute. Die Steuerreform hat die Jahresbruttoverdienste von 40.000 Mark und mehr im Blick. Dort sind die Steuerentlastungen absolut und relativ stattlich. So hat der Kioskbetreiber 2005 bei einem Gewinn von 40.000 Mark 26 Prozent oder 2.158 Mark weniger Steuern zu zahlen, die ledige Fachverkäuferin mit einem Jahresbruttoverdienst von 40.000 Mark zahlt 30 Prozent oder 1.930 Mark weniger Steuern.

Allerdings: Der verheiratete Geschäftsführer einer Brauerei vermindert bei einem Jahresbruttoverdienst von 180.000 Mark seine Steuerschuld um 15 Prozent oder 7.375 Mark. Und die Inhaberin eines Tiefbaubetriebs mit einem Gewinn von 250.00 Mark kann ihre Steuerschuld sogar um 22 Prozent oder 22.390 Mark senken. Das kann sich doch sehen lassen, möchte man im Chor der Steuerreformer jubelnd singen – wenn es nicht darunter so peinlich asozial aussehen würde.

1. Stufe: Die Verkäuferin, der Student, die Bedienung in einem Lokal mit einem Jahresbruttolohn von 15.000 Mark mussten in der Regel schon 1998 keine Steuern bezahlen. Für diese Einkommensgruppen am untersten Rand gibt es – vom Kindergeld abgesehen – jetzt keinen Pfennig Verbesserung. Denn ihre Sozialbeiträge müssen sie in unveränderter Höhe zahlen. Hier zeigt sich die Sünde des Bündnisses für Arbeit, nicht gleichzeitig mit der Steuerreform eine gewisse Subventionierung des Niedriglohnsektors angegangen zu haben (Verminderung der Sozialabgaben).

2. Stufe: Die Altenpflegerin, die Pommesverkäuferin, die Haushaltsgehilfin mit einem Jahresbruttoverdienst von 20.000 Mark hat folgende steuerliche Jahresentlastung: als Single (407 Mark), als Verheiratete (nichts) und als Verheiratete mit Kind (600 Mark Kindergeld). Das entspricht einem leicht luxurierenden Aldi-Einkauf oder einem monatlichen Besuch bei McDonald’s.

3. Stufe: Aber auch die Verkäuferin, die Teilzeit-Sekretärin mit Kind in der Verwaltung oder der Lagerarbeiter mit 30.000 Mark Jahresbruttoverdienst sehen kaum eine Kerze am Ende des siebenjährigen Steuerreform-Tunnels. Ihr jährlicher Steuernachlass vermindert sich zwar von 3.031 auf 1.532 Mark – wenn sie Singles sind. Bei Verheirateten hingegen ist die Steuerreduzierung genau gleich null, und beim Status „Verheiratet und ein Kind“ sind wieder einmal die jährlichen 600 Mark Kindergelderhöhung ein Brosamen de Luxe.

Am deutlichsten wird die soziale Unausgewogenheit bei den Steuersätzen für juristische Personen (zum Beispiel Aktiengesellschaften): Sie zahlen von ehemals 56 Prozent ab 2001 nur noch 25 Prozent Steuern.

Aufschlussreich ist auch der Vergleich von Anteilsverkauf, Unternehmensverkauf und Abfindungen. Nehmen wir an, dass eine Aktiengesellschaft einen Anteil für 200.000 Mark an eine andere Gesellschaft verkauft. Dann zahlt sie keine Steuern. Verkauft aber ein Handwerker seinen Betrieb mit einem Gewinn in gleicher Höhe, dann sind 58.805 Mark an den Fiskus fällig. Und erhält ein Arbeitnehmer nach langjähriger Tätigkeit eine Abfindung von 200.000 Mark, dann muss er 99.000 Mark an Steuern berappen.

Kurz: Das ist wohl jene Verteilung von unten nach oben, die die rot-grüne Regierung als Opposition noch so scharf kritisiert hatte.