13.000 Kilometer in einem Jahr

Mit Satellitensendern ausgestattete Kraniche und Störche werden auf der „Ostroute“ mit dem Auge aus dem All beobachtet. Damit ist es erstmals möglich, detailliert den Weg der Vögel zu verfolgen. Im Internet konnte der Flug live betrachtet werden

von URS FITZE

Carolina packte die Reiselust. Am 13. März 1999 brach das Kranichweibchen nach Monaten, die es im israelischen Hulatal in ihrem Winterquartier verbracht hatte, in Richtung Norden auf. Sie fliegt in einem Rutsch innerhalb von 24 Stunden 494 Kilometer weit nach Syrien hinein – zusammen mit Artgenossen im für Kraniche so typischen V-Formationsflug. An der Spitze wechseln sich die Vögel regelmäßig ab, um den Kräfteverschleiß innerhalb der Gruppe auszugleichen.

Carolina trägt einen kleinen, auf ihrem Rücken festgeschnallten, 70 Gramm wiegenden Sender von der Größe einer Zigarettenschachtel. Er ist ihr im Spätherbst 1998 im Hulatal von Ornithologen mit Bändern angeschnallt worden. Das vierjährige Kranichweibchen fliegt im Rahmen des Projekts „Natur ohne Grenzen“ im „Dienst“ der Umweltstiftung Euronatur in Radolfzell, der Society for the Protection of Nature in Israel (SPNI) und der Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg.

Die Signale des mit Solarenergie betriebenen Senders wurden im Weltall von Satelliten aufgefangen. Damit ließ sich die Position von Carolina mit großer Genauigkeit bestimmen. So war es erstmals möglich, Großvögel auf ihrem Zug zu verfolgen – im Internet, wo die Daten abgerufen werden können (www.euronatur.org oder www.birds.org.il).

Auch wenn seit Anfang des 20. Jahrhunderts Millionen von Zugvögeln beringt worden sind, so ist das Wissen um genaue Routen, Rastplätze und Flugverhalten nach wie vor lückenhaft. Das gilt besonders für die Ostroute von Nordosteuropa und Russland in den Nahen Osten und nach Afrika, wo der Eiserne Vorhang jahrzehntelang die grenzüberschreitende Forschungszusammenarbeit erschwert hatte. Sie dürfte, was die Zahl der Vögel betrifft, die diesen Weg zwischen Sommer- und Winterquartier wählen, noch bedeutender sein als die Westroute über die iberische Halbinsel und Gibraltar. So fliegen Neuntöter aus den spanischen Pyrenäen den gewaltigen Umweg via östliches Mittelmeer nach Afrika.

„Wir vermuten einen Zusammenhang mit dem Rückzug der Gletscher nach der letzten Eiszeit“, sagt der Ornithologe Claus-Peter Hutter, Präsident der Stiftung Euronatur. „Die Vögel dürften dem sich zurückziehenden Eis bei der Inbesitznahme neuer Brutgebiete in Ost-West-Richtung gefolgt sein. Diese Route beeinflusst ihr Wander-Verhalten bis heute.“

Über eine halbe Milliarde Zugvögel überfliegen pro Jahr den schmalen Korridor zwischen der östlichen Mittelmeerküste und den Wüstengebieten des mittleren Ostens. „Im israelische Hulatal kann es passieren, dass innerhalb von wenigen Minuten die Bestände aus ganz Mittel- und Osteuropa einer einzigen Vogelart durchziehen“, sagt Hutter. „Hier liegt der Zugkorridor der Rosapelikane. Bis zu 20.000 Vögel ziehen durch.“ Die größte Gefahr für die Zugvögel sind nicht die schießwütigen Menschen, sondern die Zerstörung von Brutgebieten und Rastplätzen. „Gerade deshalb ist es so wichtig, die Routen genau zu erforschen. Wir haben bis heute keine Ahnung, wo genau Kraniche und andere Vogelarten auf ihrem Zug auf der Ostroute rasten.“ Das ist auf der Westroute anders, wo die Rastplätze nicht nur bekannt, sondern inzwischen auch durch verschiedene administrative Maßnahmen relativ gut geschützt sind.

Das Kranichweibchen Carolina fliegt jedes Jahr weit nach Norden – bis nach Archangelsk rund 1.000 Kilometer nordöstlich von Moskau. Dort ist sie im vergangenen Jahr Ende Mai eingetroffen. In drei Etappen hat sie über 4.000 Kilometer zurückgelegt. Zuerst flog sie innerhalb von 15 Tagen 1.600 Kilometer via Libanon, Syrien, Türkei und Schwarzes Meer auf die russische Krim. Dort blieb sie fünf Wochen, um sich von den Strapazen des Fluges zu erholen. Ende April begann die zweite Etappe. In nur acht Tagen legte Carolina 1.200 km zurück. Dann ruhte sie sich für 10 Tage an der Wolga aus. Das letzte Wegstück bewältigte sie in zwei Wochen: 1.540 Kilometer bis ins Brutgebiet inmitten der Taiga auf 64 Grad nördlicher Breite und 43 Grad östlicher Länge.

Mit der Publikation der Daten im Internet sollen nicht nur interessierte Laien, sondern auch Wissenschaftler zu weiterer Forschungstätigkeit angeregt werden. „Ideal wäre, wenn Vogelkundler vor Ort anhand unserer Satellitendaten die Ökosysteme untersuchen, in denen sich die Zugvögel aufhalten. Denn wir wissen praktisch nichts über den Zustand des Taiga-Gebietes um Archangelsk, das ein sehr wichtiger Brutplatz ist“, sagt Hutter. Carolina blieb bis zum 14. August dort. Auf dem Rückflug legte sie wiederum zwei Zwischenhalte ein. Doch diesmal wählte sie eine östlichere Route über den Kaukasus und vermeidet damit den Flug über das Schwarze Meer, das sie noch im Frühling überflogen hatte.

Die Rastplätze lagen im September für vier Wochen an der Grenze zwischen Russland und Kasachstan und Mitte Oktober für zwei Wochen an den Gestaden des Salzsees Manyc Gudilo westlich des kaspischen Meeres. Dann überflog Carolina in einem Rutsch 2.305 Kilometer und erreicht via Georgien, Armenien, den nördlichen Iran, Irak und Syrien am 7. November Israel. Insgesamt war sie 1999 während fünf Monaten unterwegs und hielt sich gerade zwei Monate an ihrem Sommersitz auf. Die längste Zeit, viereinhalb Monate, verbrachte sie im israelischen Hulatal. Insgesamt ist sie 13.000 Kilometer weit geflogen, ihre höchste Tagesleistung lag bei 566 Kilometern.

Carolina ist einer von fünf Kranichen, die vor knapp zwei Jahren mit Satellitensendern ausgestattet wurden. Etwas länger waren fünf Störche mit entsprechenden Sendern unterwegs. Das Storchenweibchen Fatima trug seit März 1998 einen Sender. 1999 legte es die gewaltige Strecke von 24.330 Kilometern zurück von ihrem Winterquartier im Tschad bis ins Brutgebiet im polnischen Ketrzyn und wieder zurück.

„Wir sind dabei, unser Wissen über die Zugvögel in einem Ausmaß zu erweitern, wie es mit konventionellen Methoden bislang nur in jahrzehntelanger Forschungstätigkeit möglich war“, schwärmt Hutter.

Ein ebenfalls mit einem Sender versehener Gänsegeier ist aus dem Hulatal zum Taurusgebirge in der Türkei geflogen, „ohne ersichtlichen Grund, offensichtlich nur zum Spaß“, wie Hutter meint. Ein Sonntagsausflug aus eigener Kraft über 150 Kilometer: Auch Vögel gönnen sich mal was.