Aufprall der Identitäten

DAS SCHLAGLOCH
von VIOLA ROGGENKAMP

„Warum findet das Volk der Juden keine Ruhe, keine Heimat?“ (Gabriele Heise, Journalistin, zum Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern im Norddeutschen Rundfunk am 10. Oktober)

„Der Unterschied ist nicht, dass im Westen weniger rechtsextrem gedacht wird als im Osten. Der Unterschied ist, dass die Hemmschwellen zum offenen Bekenntnis niedriger sind“ (Gregor Gysi, Frankfurter Rundschau vom 7. Oktober)

Am Bahnhof in Leipzig wartete ich auf den Zug nach Hamburg. Der Bahnhof von Leipzig ist wahrscheinlich der jetzt prächtigste Bahnhof in ganz Deutschland. Überall funkelt es. Blinkender Stahl, spiegelndes Glas, schimmernder Marmor. Jedenfalls sieht der Fußboden so aus, als sei er aus Marmor, und ganz blank geputzt ist er, sodass man fürchtet, samt Koffer und Taschen auszurutschen.

Mein Zug war schon eingefahren. Vor mir hasteten die Reisenden mit trippelnden Schritten über spiegelglatte Steine zum Gleis. Ich setzte mich in ein kleines Abteil, in dem sich gerade drei Frauen einrichteten, zwei gehörten zusammen, die dritte Frau, eine Türkin, reiste allein. Sie saß an der Abteiltür. Ich setzte mich ihr gegenüber. Die anderen zwei Frauen saßen am Fenster, schienen bester Laune und unterhielten sich über ihre neue Arbeit, die sie in Hannover erwartete. Eine Visagistin und eine Maniküre. So viel verstand ich immerhin. Sie sprachen sehr schnelles Sächsisch, hatten mich kurz gemustert, sofort als Westdeutsche erkannt und unter der Sprachbarriere abgesetzt. Der türkischen Frau fühlte ich mich näher als ihnen. Sie und ich hatten etwas gemeinsam. Wir waren hier auf fremdem Boden. Ostdeutschland.

Die Bemühungen – besonders deutlich in den vergangenen Tagen –, eine Einheit, die es nach so kurzer Zeit noch gar nicht geben kann, herbeizureden, sollen die existierende Kluft in der deutschen Familie verdrängen. Das Herbeireden und Verdrängen ist Programm, und wer nicht mittut, ist ein zu verfolgender Miesmacher. In vierzig, fünfzig Jahren werden die Kinder von heute die deutsche Vergangenheit aufzuarbeiten haben, die unsere Gegenwart ist. Das wiederholt sich.

In Westdeutschland denken die meisten, das Thema Antisemitismus mit viel Fleiß erledigt zu haben. Wie ihre Eltern glauben sie, es gehe um Erledigung. In Ostdeutschland wollen die meisten mit der für BRD und DDR gemeinsamen Vergangenheit nichts zu tun haben. Was die heutige Elterngeneration – im Westen wie im Osten – aufgebürdet bekommen hat von ihren Eltern und Großeltern, deren verdrängte Geschichte bewältigen zu müssen, das wollen jetzt sie ihren Kindern zumuten. Selbstverständlich nur, weil sie es so für das Beste halten. Vor fünfzig Jahren wurde im Osten der Sozialismus für das Beste gehalten und im Westen das Wirtschaftswunder. Heute ist die Wiedervereinigung das Beste. Da müssen jetzt alle durch, und zwar in strammer Haltung. So sagt man das heute nicht mehr. Stramme Haltung heißt heute: happy und cool, glücklich und kühl.

Die zwei Frauen am Fenster hatten ein kleines Tischchen zwischen sich heruntergeklappt und darauf ihre Hände abgelegt, berufsmäßig weich gecremte Hände mit sorgfältig lackierten Fingernägeln. Ihre Gesichter waren angestrengt, ihre Gesichtshaut schien vierzig Jahre älter als die ihrer Hände zu sein. Die türkische Frau mir gegenüber zog ein Buch aus ihrer Tasche und begann darin zu lesen. Ich versuchte, den Titel zu entziffern, wiewohl ich nicht erwartete, etwas zu verstehen. Ich las den Namen: Karl May. Sie zeigte mir das Buch. „Vahsi Kürdistan’a Yolçuluk“. Ich verstand, was ich nicht verstand. „Durchs wilde Kurdistan“. Sie lachte. Ihr Mann habe ihr das Buch mit auf die Reise gegeben. Er sei Deutscher, aber von Geburt Kurde. Sie sei türkisch, vor sechs Jahren nach Deutschland gekommen und lebe mit ihrem Mann in Chemnitz. Die türkischen Freunde in Westdeutschland sagten „Ossi“ zu ihr. „Ich glaube“, sagte sie, „wir Türken in Ostdeutschland verstehen die Ossis besser als ihr Wessis, aber die Ossis hören nicht gern, dass wir sie verstehen. Mit uns wollen sie nichts gemeinsam haben. Wir sind nur Türken.“

Der Schaffner kam, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Er sprach Berliner Dialekt. So deutlich Berliner Dialekt, wie Westberliner selten sprechen. Eher Ostberliner. Vielleicht, weil so viele Westberliner aus Baden-Württemberg kommen. Die zwei Frauen am Fenster hielten ihm ihre Fahrscheine entgegen. Er nahm sie und gab sie dankend zurück. Auch die türkische Frau hielt ihr Billett bereit. Nur ich suchte in meiner Handtasche. Er wartete, bis ich mein Ticket gefunden hatte. Erst dann nahm er die Fahrkarte der Türkin.

Wie, um vor mir diese Abstufung noch deutlicher zu machen, fragte sie ihn, wann der Zug in Hannover ankomme. Tatsächlich sagte er zu mir gewandt: vierzehn Uhr dreißig. Da er mitbekommen hatte, dass sie und ich miteinander im Gespräch waren, richtete er seine Antwort an mich, nicht an sie.

„Das meine ich“, sagte sie. Ich nickte. „Die Ostdeutschen sind neidisch auf die Westdeutschen, davon verstehen wir viel.“ Es sei das Gefühl, an einem wäre etwas, was man nicht wegbekomme und was einen weniger wert mache. „Besonders die Sachsen sind empfindlich“, sagte sie. „Den Hass auf die Westdeutschen aber kriegen wir ab.“ Dennoch sei sie lieber in Ostdeutschland als in Westdeutschland. Es sei ein bisschen „wie Türkei“, die Neonröhren und das Linoleum, nicht schön, aber vertraut.

Auf einmal sprach sie von Palästina und Israel. Mich hatten die hässlichen Speisesäle in den alten Kibbuzim in Israel an DDR-Raststätten erinnert. Sie sprach von den Palästinensern in Israel, die sie mit den Westdeutschen verglich, da es ihnen so viel besser ginge als den Palästinensern in den libanesischen Flüchtlingslagern und in Gaza.

Was sie von den Israelis halte, fragte ich sie. Sie möge die Juden nicht besonders, antwortet sie. Dass sie eben wie eine Deutsche gesprochen habe, sagte ich ihr. Wir schwiegen uns an.

In unser Schweigen hinein drang das Gespräch der zwei Frauen aus Sachsen, von dem ich meinte, mehr verstehen zu können als zu Beginn der Reise. Mir schien, dass in ihrem Sächsisch, je weiter wir uns von Leipzig entfernten, ein deutlich wachsender Berliner Tonfall sich breit zu machen begann.

Die zwei Frauen sprachen über Geld. Ein wichtiges Thema. Über Trinkgelder ihrer Kundschaft. Sie waren sich uneinig darin, ob West- oder Ostdeutsche großzügiger seien. Die Frau mir gegenüber stopfte Karl May in ihre Reisetasche und sagte, „was ungerecht ist, dass Türken in Deutschland durch ihre Steuergelder mitbezahlen bei der Wiedergutmachung für die Zwangsarbeiter“. Dann legte sie ihre Hand auf mein Knie und fügte hinzu: „Deutsche Juden auch!“ Wir hatten uns wiedergefunden.

Da wurden wir getrennt. Ob sie mal durchkönnten, fragten die zwei Frauen aus Sachsen freundlich. Mich sahen sie an, und sie sprachen nun Berliner Dialekt pur. Kein Westdeutscher in Hannover würde sie jetzt noch als Ostdeutsche aus Sachsen identifizieren können.

Hinweis:Heute ist die Wiedervereinigung das Beste. Da müssen jetzt alle durch, und zwar in strammer Haltung.

Zitat:„Wir Türken in Ostdeutschland verstehen die Ossis besser als ihr Wessis – das hören die Ossis ungern.“