Regime der Nadelstiche

Israel hat seine Bringschuld nicht erbracht: Seit Beginn des Friedensprozesses hat sich die Lebenssituation der Palästinenser stetig verschlechtert

Von KAI HAFEZ

Zu den jüngsten Ereignissen im Nahen Osten kann es keine zwei Meinungen geben: Israel hat seine Bringeschuld im Friedensprozess nicht erbracht. Für die Mehrzahl der Palästinenser gibt es keine glaubhafte Perspektive für die Errichtung eines lebensfähigen Teilstaates mehr.

Im Gegenteil: Die palästinensische Existenz, teils unter direkter israelischer Besatzung, teils unter dem schikanösen Regime einer im Ansatz steckengebliebenen Autonomie, gibt heute leider jenen Recht, die von Anfang an gewarnt hatten, sich auf einen Verhandlungsprozess einzulassen, in dem der Schwächere um jeden Zentimeter Boden mit dem Stärkeren kämpfen muss – und hierbei am Ende nur verlieren kann. Diejenigen, die auf den Osloer Friedensprozess als einzig gangbaren Weg gebaut haben, selbst in den langen Jahren der Stagnation unter Netanjahu und Barak, sehen sich heute getäuscht. Israel hat nur einen Bruchteil seines Truppenrückzugs vollzogen, es bleibt unerbittlich in der Jerusalemfrage und versucht mit allen erdenklichen Finessen substantielle Kompromisse zu vermeiden. Viereinhalb Jahre nach den palästinensischen Wahlen von 1996, in denen Arafat das Mandat für einen historischen Kompromiss erhielt, wird das Verhandlungsgeschehen nur noch als blanker Zynismus auf Kosten von Generationen betrachtet.

Was viele seit langem erwartet haben, ist eingetroffen: Die seit langem erhitzte palästinensische Seele kocht. Erstaunlich ist nicht, dass sie dies tut. Erstaunlich ist vielmehr, dass sie es erst jetzt tut. Immer neue illegale israelische Siedlungen, Häusersprengungen, schikanöse Grenzkontrollen und ein verschleppter wirtschaftlicher Aufbau in den Autonomiegebieten: laut einer Untersuchung des angesehenen Passia-Instituts in Jerusalem hat die Konfiszierung palästinensischer Personalausweise in Jerusalem und die Verdrängung der Palästinenser aus der Stadt seit 1996 explosionsartig zugenommen. Wer meint, der Nährboden für eine neue Intifada sei von radikalen Organisationen wie den Fatah-Falken, Hamas oder Hisbollah bereitet, der kennt die Verhältnisse nicht, denn einer solchen Mobilisierung durch radikale Gruppen bedarf es nicht. Was wir sehen, ist ein Volksaufstand gegen den Besatzer, den organisierte politische Gruppen für ihre Zwecke zu nutzen versuchen. Im Kern bleibt es ein Volksaufstand.

Wer schließlich meint, Arafat habe es jederzeit in der Hand, seine Leute zurückzupfeifen, der irrt, ebenso wie diejenigen, die der Ansicht sind, radikale Siedler seien zu jeder Zeit von der israelischen Regierung kontrollierbar. Arafat steuert diese „neue Intifada“ ebenso wenig wie die erste. Im Nahen Osten mit seinen ausgeprägten Bindungen zu politischen Bewegungen, Milizen, Klans und Klienten standen staatliche Gewaltmonopole immer auf tönernen Füßen. Stark ist der Staat nur, wenn er sich als Militär- und Polizeistaat verhält.

Dass in einem gewaltsamen Konflikt wie dem jetzigen alle Seiten Schuld auf sich laden – das Bomben werfende israelische Militär, das zig Steine werfende Kinder auf dem Gewissen hat, ebenso wie der palästinensische Mob, der seine Frustration an einzelnen Israelis auslässt – ist nicht zu leugnen. Die Hauptverantwortung tragen diejenigen Kräfte in Israel, die sich vom Erbe des ermordeten Jitzhak Rabin abgewendet und mit immer neuen Methoden ein expansionistisches Roll-Back des Osloer Friedensprozesses eingeleitet haben.

Scharons Besuch auf dem Tempelberg vor einigen Wochen war nur der Auslöser der Unruhen, dem ein langjähriges Regime der Nadelstiche gegen die Palästinenser vorausging. Heute gibt es mehr Grenzkontrollen im Westjordanland als vor dem Friedensprozess. Jeder Terroranschlag radikaler Palästinenser diente als Anlass oft monatelanger Absperrungen des israelischen Arbeitsmarktes – Kollektivstrafen, die zur Verschlechterung der sozioökonomischen Lage der Palästinenser geführt haben, deren Pro-Kopf-Einkommen heute weit niedriger liegt als vor Beginn des Osloer Friedensprozesses. Die Friedensdividende ist ausgeblieben.

Den Terror Einzelner als Vorwand für die Verzögerung von Friedenslösungen zu nehmen war stets unlogisch, denn die Argumentation spielte in die Hände derjenigen, die Kompromisse von vornherein ablehnten. Dass Arafat, dessen Innen- wie Außenpolitik in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht erfolglos geblieben ist, gegen Terror im palästinensischen Lager, der viele Israelis verständlicherweise ängstigt, vorgegangen ist, bezeugen heute Menschenrechtsorganisationen, die ihm sogar allzu große Härte bei der Verfolgung der Radikalen in Zusammenarbeit mit Israel vorwerfen.

Was jetzt verhindert werden muss, das ist die Rückkehr zu einer gesamtregionalen arabisch-israelischen Konfliktstellung. Ein vierter Krieg um Palästina würde die gesamte Nahostregion in ihrer Entwicklung zurückwerfen. Der Schlüssel liegt heute nicht zuletzt in der Hand der friedensbewegten Israelis, die sich nicht einem faulen nationalen Konsens unterordnen dürfen, sondern die eigene Regierung auffordern müssen, die Palästinenser endlich politisch ernst zu nehmen. Die Europäer, und hoffentlich auch die Amerikaner, müssen sie dabei unterstützen.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg