Sicherheitsabstand zum Koloss

Auch wer von vornherein verrückt ist, entkommt dem unlebbaren Leben nicht: Der unwirsche King Lear des Needcompany-Gastspiels am Schauspielhaus  ■ Von Kristof Schreuf

Wer sich nur schnell und häufig genug bewegt, der gewinnt Zeit, hält das Ende auf oder entkommt wenigstens einem Angriff. Deshalb verliefen und redeten sich die SchauspielerInnen der Needcompany, die mit Shakespeares King Lear am Schauspielhaus gastierte, so exaltiert über die Bühne. Deshalb gingen sie nach den Seiten ab, um sofort zum Bühnenrand zurückzukehren und von dort schreiend Befehle zu geben.

Wer sich nicht bewegt, der wird nicht entkommen, sondern in Welten eintreten, in denen der Schmerz zur Rettung da sein soll. Wie König Lear. Für die Needcompany wird er nicht verrückt, sondern er ist es von Anfang an. Desinteressiert und unwirsch lässt er sich von seinen Töchtern sagen, was sie an ihm finden. Tom Jansen als Lear rasselt seinen Text absichtsvoll herunter. Denn es soll früh ein Signal gegeben werden, dass hier jeder gewillt ist, seine Nähe oder seinen durchaus nicht komikfreien Sicherheitsabstand zu einem Koloss von einem Klassiker selber zu bestimmen. Das Publikum wird aufgefordert, Lear zu taxieren, damit es nicht von ihm erdrückt wird. Bei dem Lear der Needcompany handelt es sich um die Vergangenheit, die nur deshalb niemand an sich vorbeilässt, weil sie sonst nichts zu tun hat. Andererseits war Lear in Jansens Interpretation in etwa so willkommen wie der Verbrecher bei Karl Marx, der durch sein Handeln die Monotonie des Alltagslebens unterbricht. Die Regelung der Erbfolge unter Lears Töchtern lässt diese schließlich bereit wie Klappmesser werden, ihrer Gereiztheit nachzugeben.

So ergibt sich die Ausgangssituation: Keiner braucht Gründe. Niemand hat wirklich Lust, sich etwas vorzunehmen. Gleichzeitig gibt es alles – oder was davon übrig ist – zu gewinnen. Wen Karrieremachen nicht mehr interessiert, der redet wirr und trägt einen Indianerhäuptlingschmuck wie Lear. Er erkennt den loyalen Freund Kent nicht mehr, der sich wiederum wundert, dass der andere es überhaupt noch aushält, da zu sein.

Die beiden, die nach Lears Tod den Staat übernehmen, spielen schon während der Tragödie die Farce. Dirk Roofthoft gibt Kent als Conferencier der Katastrophe. Alle sitzen, vor Überforderung entseelt am Tisch in einer Art Disco-Hades, oder sie sterben lakonisch. Roofthoft ruft Edgar und Edmund auf, als bezeichneten sie Begriffe, deren Gehalt vergessen worden ist. Die deutsche Übersetzung des Textes rast über die digitale Anzeigentafel. Aber selbst, wenn die Maschinen der Wahn zu erreichen scheint, prügelt sich wahrscheinlich doch bloß die Nachhut der Zivilisation.

Misha Downey spielt den überlebenden Edgar, Glosters Sohn, der sich seinen Verstand erst durch vorgetäuschten Wahnsinn und dann durch authentische Weltfremdheit erhält. Seine Sätze wirken so esoterisch wie seine Tanzbewegungen. Die Tanzszenen zeigen aber auch, wie dieses Leben ist, wenn es nicht auszuhalten ist. Menschen bewegen sich wie hospitalistische Halme im Wind oder wie behinderte Hunde. Sie headbangen, um ihr volles Herz über den Kopf weg- oder abzuschütteln.

Was in ihnen vorgeht, lässt sich eben nicht nur auf einen Begriff, sondern auch auf den Tanz der Needcompany bringen. Er sagt zusätzlich zu dem Text, was gemeint ist: das Leben beginnt mit dem fünften Akt. Das Stück King Lear beginnt, nachdem das Unglück lange genug unter uns gewütet hat, um uns kaputt zurück und übrig zu lassen. Über dieses Unglück lässt sich nachdenken, schreiben und tanzend meditieren. Die milde Sorte Tapferkeit des Ensembles lässt sich dabei erkennen. Zeigt es doch zum einen, wie sich Leute von der eigenen Unfähigkeit anstecken lassen, bis sie die Alternative spüren, paranoid auf sich selber zu reagieren oder nach sich selber süchtig zu werden.

Der andere Aspekt muss niemandem und auch nicht der Needcompany vorgeworfen werden: In früheren Jahren musste der britannische König herhalten, um eine Vorstellung vom Menschen nach dem Ende eines atomaren Weltkrieges zu vermitteln. Tatsächlich aber lässt sich auch das Leben vor diesem Krieg so wenig in den Griff kriegen, wie die Geschichte von King Lear.

Weitere Vorstellung: heute, 20 Uhr, Schauspielhaus