Schonzeit ist bis zur Ernte

Der Kohl bliebe liegen, die Zwiebeln unverpackt: Die amerikanischen Farmer sind auf die Wanderarbeiter aus Mexiko oder Guatemala angewiesen

aus Batavia PETER TAUTFEST

Anfang Oktober kam der Frost zwar früh, aber nicht völlig überraschend für diese Region südlich des Lake Ontario im Bundesstaat New York. Dem Rasen, den Craig Yunker erst vor zwei Jahren in die Produktpalette der „CY Farms LLC“ aufgenommen hat, würde er nichts anhaben, dem Kohl und den Zwiebeln auch nicht, wohl aber den Bohnen und Erbsen. P. J., wie Craigs Partner genannt wird, war noch in der Dunkelheit auf den Feldern und bringt einen Strauß mit. „Ich hatte gehofft, die Blätter würden die Bohnen besser schützen“, sinniert Craig. Kein Blaumann, keine Risse an den Händen, keine matschigen Stiefel – Craig sieht aus wie ein Banker im Freizeitlook. „Wir haben noch mehr als fünf Hektar zu ernten“, sagt P. J., der in Stiefeln, karierter Wolljoppe und Baseballmütze schon mehr dem Bild eines Farmers gleicht. „Seine Aufgabe ist es, uns mit Aufträgen, Deals und Geschäftskombinationen von Jahr zu Jahr durchzubringen“, sagt P. J. über Craig, „meine ist es, uns durch den Tag zu bringen.“

Zwischen dem Farmhaus und dem Büro der CY Farms haben sich Partner und Arbeiter zur morgendlichen Besprechung versammelt. Fröstelnd und müde stehen darunter auch ein Dutzend junge Männer, denen man ansieht, dass sie aus Guatemala oder Mexiko kommen. Sie sprechen kein Englisch, und weder Craig noch P. J. sprechen spanisch – „ein Manko in dieser Region und diesem Geschäft“, gibt Craig zu. Alisia Castaneda aber spricht beide Sprachen fließend. Die junge Frau mit der Jacke, die ihr um mehrere Nummern zu groß ist, teilt die Arbeit ein. Die Indiofrauen sind erst gar nicht ausgestiegen, sie sitzen in den Pick-ups und warten auf die Abfahrt. Die meisten sehen nicht zum ersten Mal in ihrem Leben mit Rauhreif überzogene Felder, sie arbeiten hier schon im zweiten oder dritten Jahr – Alisia schon in der zweiten Generation auf der Farm. Vater und Mutter – Wanderarbeiter aus Saltillo – waren ihr Leben lang jeweils acht bis neun Monate nach Batavia in New York gekommen, arbeiteten am Ende aber nur noch für Yunkers.

Die Arbeitsbesprechung ist in wenigen Minuten zu Ende. Während P. J. zu den Bohnenerntemaschinen zurückkehrt und Alisia die Verpackung von Zwiebeln und Kohl beaufsichtigen wird, kehrt Craig ins Büro zurück, wo schon zwei Sekretärinnen an Computern sitzen und Liefertermine, Lastwagenkapazitäten und Aufträge jonglieren.

Craig Yunker hatte eigentlich die Familienfarm verlassen wollen – wie seine vier Geschwister. Er studierte Volks- und Betriebswirtschaft an der renommierten Cornell University im nahen Ithaca, fand dann aber, dass er seinen Vater nicht hängen lassen könnte. Craig entwarf ein neues Konzept und räumte mit zwei veralteten Vorstellungen auf: Weder muss man Land besitzen, um Bauer zu sein, noch muss man für einen unberechenbaren Markt produzieren.

Craig Yunker pachtet Land – denn Landbesitz bindet nur Kapital – und macht die Farmer, deren Felder er bestellt, zu Partnern. So streut er das Risiko. Auf über 2.000 Hektar baut er heute fünf Sorten Gemüse und Rasen an. Die Rasenproduktion übernahm er von einer konkursbedrohten Firma in Batavia, deren Inhaber er zwei Jahre lang zu Partnern machte – wegen ihres Know-how. Und einen Zwiebelfarmer im Süden machte er zum Partner, damit die Laster nicht leer nach Hause fahren, nachdem sie Rasen für die Golfplätze am Canandaigua See und an die Universitäten von Ithaca und Cornell geliefert haben.

Craig Yunker baut unter Vertrag an. Für Kentucky Fried Chicken etwa liefert er den Kohl für die Krautsalatbeilage. Die Kohlköpfe müssen alle gleich aussehen, von gleichem Geschmack und gleicher Qualität sein. Bei jeder Portion lässt sich exakt bestimmen, wo die Kohlköpfe herkamen. Sollte es je zu den gefürchteten bakteriellen Infektionen kommen, die in den letzten Jahren in Amerika Aufsehen erregten, ist das Feld identifizierbar, auf dem der schlechte Kohl gewachsen ist. „Die Sorge um Nahrungsmittelsicherheit und der Vertrauensschwund eröffnen uns ganz neue Märkte“, sagt Craig. Die britische Firma IceLand, die nach den Aufregungen um BSE, Hormonrindfleisch und genetisch modifizierte Nahrungsmittel eine sehr misstrauische Kundschaft zu bedienen hat, war schon bei ihm, um biologisch angebaute Bohnen zu bestellen.

Im Bioanbau hat Craig Erfahrung. Vor Jahren hat er Öko-Tomaten für eine Firma in Vermont geliefert. Leider ist die Firma nach Kalifornien gezogen, und mit dem Tomatenangebot im sonnenbegünstigten Süden kann er nicht mithalten. Am Beispiel der Tomaten aber erläutert Craig gern das Verhältnis zu seinen Arbeitern – besonders zu den hispanischen Wanderarbeitern.

Erst hatte Craig Alisia gar nicht wahrgenommen. Er wusste nur, dass sie die Tochter der Castanedas war, die mit ihren acht Kindern schon seit Jahren für ihn arbeiten. Vor ein paar Jahren hat sich das geändert. „Ich lieferte für eine Konservenfabrik, die Tomaten einer ganz bestimmten Größe und Form brauchte. Die Ware wurde nach Klasse bezahlt, und die bestimmte sich nach der Anzahl der ‚richtigen‘ Tomaten. Wenn zu kleine oder zu große dabei waren, gab es Abzüge. Ich bekam die Nachricht, dass unser Reinheitsgrad unter 90 Prozent gefallen war. Ich also immer wieder raus zur Ernte- und Sortiermaschine und mir angeguckt, wie man das Ergebnis verbessern könnte. Alisia hat immer ihre Nase dazwischengesteckt und mich gefragt, was ich da mache. Erst dachte ich: ‚Was will das Gör?‘ Ich solle das ihre Sorge sein lassen, hat sie gesagt. Ich erklärte ihr, was los war. Einen Tag später bekam ich einen Anruf von der Konservenfabrik. Ich hätte 100 Prozent, wie ich das denn angestellt hätte? Meine Verdienstspanne betrug tausende von Dollar. Ich habe Pizzas besorgt und bin damit hinaus aufs Feld und direkt vor die Erntemaschine gefahren. Wir haben mitten am Tag und auf der Stelle eine Pizzaparty veranstaltet. So habe ich gelernt, dass man seine Arbeiter in den Prozess einschließen und ihnen vertrauen muss.“ Irgendwie hatte Alisia die Sortiermaschine überlistet.

„Unser größtes Problem hier ist der INS, die amerikanische Einwanderungsbehörde“, sagt Craigs Vater Carl Yunker. „INS-Beamte sind neulich überfallartig zu uns gekommen. Bewaffnet stürmten sie herein – an den Sekretärinnen vorbei und ins Büro von Craig. Die Papiere wollten sie sehen. Ist das denn eine Art?“, empört er sich, „und den Mexikanern lauern sie in Batavia beim Einkaufen auf.“ Zum Glück aber habe die Stimme seines Sohns Gewicht im County. Der ist an die Einwanderungsbehörde herangetreten, man solle die Wanderarbeiter gefälligst bis nach der Ernte in Ruhe lassen – kein Farmer könne hier ohne Wanderarbeiter überleben. Der Kohl bliebe liegen, die Zwiebeln unverpackt.

„Im Herzen bin ich Mexikanerin“, sagt Alisia. Haut- und Haarfarbe, schwarz und sonnenverbrannt, verraten nicht nur ihre Herkunft, sondern auch den Job, der von ihr verlangt, bis zu zwölf Stunden am Tag draußen zu sein. Alisia hat immer zu tun und meist mehr, als sie erledigen kann. So atemlos, wie sie spricht, so rasant fährt sie den Gabelstapler, mit dem sie Paletten mit Zwiebeln schichtet.

Zur Schule ist Alisia in Lockport gegangen, und als ihre Familie nach Batavia zog, verlor sie alle ihre Freunde. Ihre Eltern waren damals noch Wanderarbeiter, die mal hier und mal da arbeiteten und zwei Monate im Jahr zu Hause in Saltillo lebten. Doch dann arbeitete die Familie Castaneda nur noch für CY Farms. Die Yunkers waren anständiger zu den Mexikanern als anderen Farmer: „Statt uns bei Regen oder Schnee nach Hause zu schicken, finden sie immer irgendetwas für uns zu tun, sie wissen, dass wir sonst nichts verdienen.“

Mit vierzehn hat Alisia angefangen, für die Yunkers zu arbeiten. Am liebsten würde sie einen Schulabschluss nachholen und aufs College gehen. Irgendwas mit Computern lernen. Das Geld sei nicht einmal das Problem, sagt sie. Es ist die mangelnde Zeit. Sie hat es mal damit versucht, abends nach der Arbeit zwischen acht und elf Uhr als Übersetzerin zu arbeiten. Dabei ist sie eingeschlafen.

Die Yunkers zahlen 25 Cents über den Mindestlohn von 5,15 Dollar pro Stunde – davon kann im Bundesstaat New York niemand leben. Wer Traktor fährt oder sonst besonders fleißig ist, bekommt mehr. Wer das ist, bestimmt Alisia. Sie verdient 11,50 Dollar die Stunde, womit sie bei ihren vielen Überstunden und nach Abzug der Steuern auf an die 2.000 Dollar im Monat kommt – davon kann im Bundesstaat New York auch nur leben, wer sonst niemanden zu versorgen hat. Von den 40 Arbeitern aus Mexiko und Guatemala sind fünf bei Yunkers fest angestellt und entsprechend krankenversichert. Wer sich von den anderen erkältet, verletzt oder durch Umgang mit Pestiziden krank wird, erhält Verdienstausfall und Arztkosten. Die meisten leben hier in schlechten Unterkünften und schicken Geld nach Hause.

Und dann noch der Ärger mit den Beamten. Zum Glück aber habe sich die Situation verbessert, sagt Alisia. „Die Einwanderungsbehörde scheint kapiert zu haben, dass es hier Arbeit gibt, die erledigt werden muss.“ Die Farmer seien nicht so rassistisch, sagt Alisia, „die akzeptieren uns“.

In Batavia, wo man Latinofamilien anstarrt, wenn sie einkaufen gehen, hat man gleichwohl ein Gefängnis für die „Illegalen“ gebaut, die der INS fasst. Dagegen konnte Craig, dessen Stimme im County ja etwas gilt, nun auch wieder nichts haben. Gefängnisse bringen schließlich Jobs und Geld in eine Region, in der Arbeitsplätze knapp sind und die Jungen abwandern.

„Die amerikanische Kultur wird sich nie damit abfinden, dass wir jetzt ein Teil dieses Landes sind“, sagt Alisia bitter. Sie wird bei der Präsidentschaftswahl am 7. November für Bush junior stimmen. Von ihm hat sie gehört, dass er sich für die Mexikaner im Lande einsetzt. Letztlich aber interessiert sie die amerikanische Wahl weniger als vor ein paar Monaten die mexikanische.

Auch Craig Yunker wird für den Republikaner Bush stimmen, obwohl er – im Vergleich zu den Leuten in seiner ländlichen Umgebung – eine liberale Auffassung zu solchen Themen wie Abtreibung, Einwanderung und Mindestlohn hat. Aber es gibt da doch etwas, was ihn für die konservative Haltung Bushs einnimmt: „Das Land muss zu den Werten der Familienfarm zurückkehren“, sagt er, „auch wenn Familienfarmen heute ganz anders aussehen als noch zu Vaters Zeiten.“