Sissi und die Schwerkraft

Und ewig kreist die Kamera: Tom Tykwers filmisches Märchen „Der Krieger und die Kaiserin“

von KATJA NICODEMUS

Ja, man schaut ihr gerne zu, wie sie den Hügel über dieser komischen Stadt hochstapft, ob im hässlichen Kleidchen oder im Regenmantel. Eine wach entschlossene Schlafwandlerin, die fast einen ganzen Film braucht, um aufzuwachen, ein stures Stehaufmädchen, das immer und immer wieder niedergestreckt wird – mal von einem riesigen Truck, mal vom eigenen Patienten, mal von dem Mann, der ihr Schicksal ist. Franka Potente hat in Tom Tykwers „Der Krieger und die Kaiserin“ ein seltsames Verhältnis zur Schwerkraft, und man ist richtig froh, wenn sie sich einmal aus ganz eigenem Entschluss erschöpft auf eine sattgrüne nasse Wiese legt.

Sissi wird sie von ihrer Umgebung genannt, und sie ist genauso freundlich, hilfsbereit und nachgiebig, wie man sich eine Sissi eben vorstellt. Ein Leben für die Patienten, obwohl die Aufopferung als Krankenschwester hier weniger Beruf oder Berufung ist. Sissi war irgendwie immer schon da in der psychiatrischen Anstalt Birkenhof, und eine mysteriöse Bindung scheint sie dort auch zu halten. Die endlosen Hallen, in denen sich die Patienten, Ärzte und Schwestern zu ihren kuckucksnestartigen Gruppensitzungen treffen, wirken wie das perspektivische Gegenteil einer „Geschlossenen“. In diesen hellen Raumfluchten schweben Geschichen, deren Bedeutung man in der grellweißen Ferne nur erahnen kann. Nur eine davon wird sich aus der Vergangenheit lösen, und während die Kamera bereits über den urbanen Schlauch von Wuppertal fliegt, schafft es Sissi erst mal auf den nahe gelegenen Hügel – zu Bodo (Benno Fürmann), der seit dem Unfalltod seiner Frau wie versteinert ist. Nur die unvermittelt fließenden Tränen sagen, wie's innen aussieht.

Beim Schicksal ist immer schwer zu sagen, wer angefangen hat. Sissi würde sagen, es war der Mann, der ihr nach einem Autounfall die Luftröhre durchbohrte und damit zum Lebensretter, Prinzen, Erlöser ihres Lebens wurde. Bodo würde sagen, es war die nervige junge Frau, die Wochen nach dem Unfall mit freudig-erwartungsvollem Gesicht auf ihn zuwandelte. Beides zusammen ergibt das Gemisch aus Zufall und Schicksal, aus dem Tom Tykwer seine Geschichten konstruiert.

Wieder hat man es mit den typisch Tykwer’schen Dornröschen, Entrückten und Winterschläfern zu tun, die sich erst wecken und wachküssen lassen. Wieder ist es der Regisseur höchstselbst, der hier in aller Offensichtlichkeit den Zauberstab schwingt. Vielleicht liegt da schon die ganze Crux, denn das Wesentliche an Zaubertricks ist ja eigentlich, dass sie unsichtbar bleiben. Wenn Schnitt, Kamera und Musik aber keine zwingende Fortschreibung der Geschichte mit filmischen Mitteln sind, sondern ihre redundante Wiederholung beziehungsweise Überlagerung, dann tritt dieser merkwürdige Leerlauf ein, der am Ende vor allem den Effekt überleben lässt.

Die schlafwandlerisch langsame Franka Potente hat es eigentlich nicht nötig, dass ihre Wahrnehmung noch mit Zeitlupe sediert wird. Wenn Sissi wiederum in der Erinnerung eines blinden Patienten die Spuren ihres Retters sucht, wird die Spannung seines angestrengt überlegenden Gesichts von der Kreisfahrt der Kamera übergangen. Genauso die erste wirkliche Begegnung von Bodo und Sissi zwischen den Wänden einer Gummizelle: Wie mit dem Zaunpfahl versucht die kreisende Kamera eine Nähe zu demonstrieren, die in den Blicken längst da ist. Obwohl Franka Potente und Benno Fürmann zwei durch und durch physische Schauspieler sind, vertraut Tykwer eben nie wirklich auf ihre Präsenz. Dafür wird dann lieber Potentes Ohr für eine ausgefallene Kamerafahrt ziemlich auffällig digitalisiert.

Natürlich ist das Sortiment der halsbrecherischen Kameraeinstellungen, gewitzten Schnitte und unzähligen kleinen Schauwerte schon irgendwie beeindruckend und in seinem Übermut sympathisch. Nur ergibt das alles ein Kino, das in seinen eigenen Möglichkeiten wie gefangen ist und damit letztlich um sich selbst kreist. Am auffälligsten, wenn Bodo und sein Bruder Walter (Joachim Król) endlich ihren lang geplanten Banküberfall durchziehen. War bis dahin fast jede Szene mit einem halbgaren Tingel-Techno unterlegt, steigert sich die von Tykwer mitkomponierte Musik hier zum Paroxysmus, ungefähr so, als hätte ein Pianist in den oberen Klavieroktaven einen Krampf im kleinen Finger. Woher eigentlich diese ungeheure Angst vor der Stille?

Und woher dieses Bedürfnis nach Eindeutigkeit? Zu den Redundanzen auf der filmischen Ebene kommt irgendwann die zwanghafte Erklärungs- und Auflösungswut einer Dramaturgie, die alle aufgeworfenen Fragen brav der Reihe nach beantwortet. Wenn sich im letzten Drittel von „Der Krieger und die Kaiserin“ alle Geheimnisse offenbaren, alle Stränge verbinden, alle Kreise schließen und ja auch die letzte Leerstelle ausgefüllt wird, bleibt eigentlich kaum etwas übrig, was man mit nach Hause nehmen könnte.

„Der Krieger und die Kaiserin“. Regie: Tom Tykwer. Mit Franka Potente, Benno Fürmann, Joachim Król, Lars Rudolph, Jürgen Tarrach u. a. Deutschland 2000, 129 Min.