Zivilgesellschaft im Handgepäck

In Prag formiert sich heute mit der S 26-Demonstration erneut ein weltweiter Protest gegen Globalisierung im Namen des IWF. Doch auch der Teen Spirit von Seattle tritt sehr professionell auf. Nach der Revolte wird Prag wieder von West-Investoren und Markennamen regiert

von JOCHEN BECKER

Wohl 18.000 VertreterInnen der „Weltfunktionseliten“ (FAZ) versammeln sich zur 55. Jahrestagung von Weltbank und Währungsfonds in Prag. Und treffen heute auf den formierten S 26-Protest der Globalisierungsgegner. Beide nutzen die Stadt als Plattform – ein kurzer Zwischenstopp im fortschreitenden Gipfel-tourismus. Neben den üblichen BesucherInnen, die durch Prags pittoreske Innenstadt marodieren, werden 20.000 Protestierende erwartet. Stadt und Land haben sich mit viel Geld auf den zusätzlichen Ansturm vorbereitet. Übereifrig wie ein Klassenprimus will sich der Staat fit für Europa präsentieren. Deshalb haben tschechische Sicherheitsbehörden bei über 30 Länder um Amtshilfe für die handelsübliche Aufstandsbekämpfung angefragt. Nun werden Busse an der Grenze abgewiesen, blau uniformierte Polizei patrouillierten schon Wochen vorher durch die Züge, aus Berlin kommt das Tränengas und vom FBI das taktische Know-how.

Kunst gegen Glasbruch

Das British Council in Prag lud noch kurz vor dem Gipfel das kapitalismuskritische Londoner Duo Art in Ruins ein, um dort ihre Schaufenstergalerie zu bespielen. Die KünstlerInnen wissen, dass sie hierbei als Glasbruchversicherung missbraucht werden, und lachen sarkastisch. Auf dem Weg hinunter von der Prager Burg, vorbei an den ungeheuer schönen Obstwiesen durchs Regierungsviertel, dringt aus dem neonbeleuchteten Keller der US-Botschaft „Smells like Teen Spirit“. Die Stallwache hört Nirvana-Songs für den Ernstfall, für ihr Gefühl eines Aufstands aus Seattle.

Es riecht wie ein Teenie-Gespenst, wenn der nordamerikanische Nachwuchs sich Quartier verschafft hat in Praha. Man wolle vor Ort die Sprache Kafkas lernen, lauten da die dümmeren Begründungen für ein Dollarleben im Genuss. Vor allem kleinere Geldbeutel überwintern hier Mitte September, der so goldwarm wie in Italien ist. Der US-amerikanische Alltag in Prag mit eigenen Zeitungen, Läden und Infrastrukturen trägt trotz verbreiteter Alternativkultur hegemoniale Züge: Bagelshops mit Cappuccino als Treffpunkt für die Advisors in Sachen Internet-Demokratie. Die Flucht vor dem Format US-Kapitalismus hat sie in eine Stadt getrieben, die sie beherrschen können.

Zahllose zivilgesellschaftliche und transnationale Einrichtungen mit dem Zungenschlag des atlantischen Englisch haben sich in Prag angesiedelt. In einer Debatte zum „New Europe“ nach 1989, veranstaltet im Rahmen des diesjährigen Kulturhauptstädte-Verbunds EuroVision 2000, wurde mit einiger Verwunderung der Drang angesprochen, ausgerechnet in Prag ein Headquarter zu eröffnen, so als wäre diese Stadt ein blank spot im Zentrum Europas. Das Hotel, in dem wir untergebracht waren, gehört der Open-Society-Stiftung des Börsenmaklers und Mäzens George Soros.

Die Debatte im künftigen Kulturzentrum (www.indymedia.org) oberhalb der Roxy-Disco und dem angeschlossenen Packpacker-Hostel wurde selbstverständlich in Englisch geführt, vorbereitet von übergesiedelten jungen US-AmerikanerInnen aus dem Umfeld des von Soros finanzierten Center of Contemporary Art. Sie tragen gelebte Demokratie und gelernte Zivilgesellschaft im Handgepäck als Glasperlenkette ihres guten Willens. Ein paar Tage später wurde hier über den anstehenden Doppelgipfel diskutiert, wobei ein gerade vom Melbourne-Protest eingejetteter Alternativfunktionär des eingespielten Nachrichtennetzwerks „indymedia“ aus Washinton die Debatte einheizte. Er ist nach Prag gekommen, um die lokalen Web-Verbindungen aufzubauen. Per Video und Text soll so aus Perspektive der Betroffenen berichtet werden – smells like 70er-Jahre.

Protest und Routine

Im Café gleich nebenan bevölkern Übersee-AktivistInnen die kostenlosen Internetterminals, um via Hotmail oder Yahoo ihre E-Mails zu checken oder den Rückflug zu buchen. Hier bildet sich eine neue Klasse alternativ geschulter NGO-Professionals heraus, die – selten älter als 30 – routiniert ihre Protestorganisation, PR-Arbeit oder Berichterstattung abwickeln. Mobile Phone, Palm Pilot oder Laptop gehören in den Rollkoffer des Reisekaders. Ihr „Teen Spirit“ ist in Wirklichkeit ein Parfüm: It smells like Tear Gas. Die Frühjahrs- bzw. Herbsttagungen der Finanzregulatoren werden so gespiegelt von einer professionalisierten Protestkette, die sich dem Datum des Protesthöhepunkts entsprechend merkfähig in Prag nun S 26 nennen. N 30 wiederum war der „Global Day of Action“-Code für den Battle in Seattle.

Ist der globale Kapitalismus ein Subjekt, dem man gegenübertreten kann? Manche Aktionen arbeiten sich am guten alten Kapitalistenbild ab, der noch Zigarre raucht und vielleicht ein Bowlerhut trägt. Oder scheint mit der zuweilen reaktiven Organisationswalze des Gegengipfels nicht auch ein Zeichen für eine neue Verbindungsarbeit der Positionen, Personen und Proteste auf? Die „Global Days of Action“ fanden ihren Widerhall von Brasilien bis Indien. Nach Seattle scheint diese Welt wieder veränderbar, obgleich der Gipfel dort eher an den inneren Strukturproblemen einer transnationalen Organisation gescheitert war denn an den Blockaden vor der Tür.

Vor Ort selbst ist das Interesse jedoch nicht sehr groß. Hysterie und Notstandsplanung, Aufstandbekämpfungspolitik und Lethargie gehen Hand in Hand. Tschechischen Business-Leuten wird empfohlen, sich touristisch zu tarnen: Während des Gipfels sollten sie statt Anzug lieber ihre Jeans tragen – willkommen in der Start-up-Kultur.

Allzu gern kommt man den Aufforderungen der Verwaltung nach, lässt sich auf keine Diskussionen mit den Demonstrierenden ein, räumt das Feld und zieht sich auf die Datschen außerhalb zurück. Die Kinder erhalten extra eine Woche schulfrei dafür. Diese merkwürdige Stadt weicht ihren Kolonisatoren desinteressiert aus und überläßt das Terrain den Gästen. Die City ist wie das Kondensat eines gefegten Europas, das sich eine touristische Stadtbürgergesellschaft erträumt. Der kürzlich organisierte Stadtmarathon wurde von aufblasbaren Torbogen eingerahmt, die auf Namen wie Adidas oder Kodak hören. Ein riesiger Sneaker aus umhüllter Luft überragt das Jan-Hus-Denkmal in der Altstadt. Einen Tag später parken hier über Nacht hunderte Security-geschützte Oldtimer, deren Besitzer am nächsten Morgen stolz durch die Innenstadt paradieren. Für die westlichen Nachbarn ist das Leben in Prag billig, und mit Englisch kommt man auch noch durch die kleinsten Läden. Ein Mittagessen kostet im Restaurant zwei Dollar, Pilsner Urquell umgerechnet eine Mark und das U-Bahn-Ticket drei österreichische Schillinge.

Filialisten aller Länder

Doch nicht nur internationale Organisationen, Dauertouristen und Demonstrierende haben sich in Prag behaglich eingerichtet. Hier trifft man auf globale Markennamen und Filialisten aus aller Herren Länder. Im „Shopping Park Praha“ bei Zlicin, am Ende der U-Bahn gleich neben der Autobahn Richtung Plzen, treffen sie zusammen: Globus (Schweiz) und Tesco (Großbritannien), Ikea (Schweden) und Segafredo (Italien) sowie McDonald's und Kentucky Fried Chicken (USA). Die Einflugschneise des frisch ausgebauten Internationalen Flughafens zieht sich über die Dächer hinweg.

Gleich nebenan in einer Plattenbausiedlung entsorgen der Secondhand-Shop sowie ein Bazar für gebrauchte Haushaltsgeräte die alten tschechischen Produkte. Eine futuristische U-Bahn-Tunnel-Brücke überspannt bei Nové Butovice das Tal. Am anderen Ende des sich an die hügelige Landschaft schmiegenden Großsiedlungsbandes entsteht ein Business-Park mit Hochhaus, an dessen Fuß rund um den U-Bahnhof sich Marktstände und Subsistenzverkäufe gruppieren.

Raus aus Bohemia

Ahoi Praha, auf Wiedersehen Grandhotel Bohemia: An der Elbe entlang schleppt sich die Bahn Richtung Berlin. Die Langsamfahrstrecken ermöglichen einem den Blick auf neu gebaute Gleiskörper, die auf raschen Anschluß warten. In Usti n. Labe zieht der Zug an der wieder abgeräumten Roma-Mauer vorbei, die man letztes Jahr noch vom Fenster aus sehen konnte. Denn so willig Prag Platz macht für den Westen, die tschechischen Roma wollen die „Weißen“ am liebsten außer Landes sehen. Bei Bad Schandau überprüft der Bundesgrenzschutz die Waggons und nennt dies „verdachtsunabhängige Kontrollen“ auf der Nacheile innerhalb einer 30-Kilometer-Zone, die bis nach Dresden reicht.