Aus Indifferenz wird Ekel

Am morgigen Referendum wird nach den Enthüllungen kaum jemand teilnehmen

PARIS taz ■ „Sind Sie für die Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten von sieben auf fünf Jahre?“ Auf diese Frage, die Jacques Chirac morgen seinem Volk stellt, will das Volk nicht antworten. Mindestens zwei Drittel der Franzosen wollen das Referendum boykottieren. Das ermittelten die Meinungsforscher schon vor Wochen und kündigten einen nie da gewesenen Grad an Enthaltungen und Politikmüdigkeit in der 44-jährigen Geschichte der Fünften Republik an.

Seit der Veröffentlichung des Videos aus dem Jenseits, das neben dem Staatspräsidenten zahlreiche andere französische Spitzenpolitiker mit anschuldigt, dürfte die seit Jahren wachsende Gleichgültigkeit gegenüber der Politik bei vielen in Misstrauen, Ekel und Hass gegen alle Politiker umschlagen. Das Referendum am morgigen Sonntag wird nun zum ersten Urnentest für diese Haltung.

Bislang hat es in der Fünften Republik nur acht Volksbefragungen gegeben. Jedes Mal kreisten sie um Fragen von zentraler Bedeutung – von der algerischen Unabhängigkeit bis hin zum Autonomiestatus für Neukaledonien. Jedesmal lösten sie großes Engagement und ebenso große Wahlbeteiligung aus. Und oft führten sie zu politischen Konsequenzen. So trat 1969 Präsident de Gaulle nach dem „Non“ im Referendum zu der von ihm gewünschten Regionalisierung zurück. Und so öffnete das mit 0,5 Prozent hauchdünne „Oui“ zu den Maastrichter Verträgen 1992 eine Hinwendung Frankreichs zur EU.

Dieses Mal gab es weder eine politische Debatte noch irgendeinen Klärungsprozess in der Kampagne für das Referendum. Sowohl Jacques Chirac als auch der sozialistische Premierminister Lionel Jospin, der seit Jahren behauptet, er wolle die fünfjährige Amtszeit, lieferten Argumente. Die mit regierenden Kommunisten riefen aus vermeintlicher Rücksicht auf Jospin zu einer abstrusen „aktiven Enthaltung“ auf. Und die Grünen schafften es nicht einmal, überhaupt eine Wahlempfehlung zu geben.

Zwar ist eine große Mehrheit der Franzosen seit Jahren für eine Verkürzung der präsidialen Amtszeit – wenngleich sie die Direktwahl und die allmächtige Rolle des Präsidenten im System beibehalten wollen –, doch stellte sich das Gefühl ein, verarscht zu werden. Erstens steht das „Quinquennat“ keineswegs im Zentrum des Interesses der Franzosen, die stattdessen gern ihre Meinung zu Fragen wie dem Ausländerwahlrecht, dem Euro und den Steuern abgegeben hätten. Und zweitens blieb bis zuletzt selbst unter Verfassungsrechtlern umstitten, was das „Quinquennat“ überhaupt für die politische Zukunft Frankreichs bedeutet: eine Aufwertung der Rolle des Präsidenten oder eine Aufwertung des Parlaments? Die Verhinderung von Kohabitationen oder ihre Verewigung?

Ein Rätsel ist dieses Referendum auch geblieben, weil sein Initiator Chirac noch bis ins vergangene Jahr hinein ein erklärter Gegner des „Quinquennats“ war.

So bleibt nur eine Erklärung: „Taktik“. Chirac wolle sich, so heißt es, basisdemokratisch geben und außerdem eine Amtszeit einführen, die seinem eigenen Lebensalter angemessener wäre. Denn im Jahr 2002, wenn das gegenwärtige Mandat offiziell zu Ende geht und Chirac eigentlich für seine eigene Nachfolge kandidieren will, wird er 70 Jahre alt. DOROTHEA HAHN