Nun gibt es kein Entkommen mehr

Kein Land ist so sportverrückt wie Australien, wo eine romantische Auffassung von Körperertüchtigung die nationale Psyche prägt: Man spielt Golf in der Staubwüste, Rugby am Strand und Cricket auf dem Schlachtfeld. Und jetzt auch noch das: Olympia

aus Aussieland ESTHER BLANK

Der Indian-Pacific-Zug fährt durch eine der einsamsten Wüstenstrecken Australiens, die Nullabor Plain: Hunderte Kilometer immer geradeaus durch roten Sand und stachliges Spinifexgras. Nur an einer Stelle, in Cook, hält er an, um Wasser für seine Passagiere an Bord zu pumpen. Wer hier kurz aussteigt, um sich die Füße zu vertreten, dem schlagen 46 Grad Hitze entgegen. Und dann staunen sie nicht schlecht: In der flimmernden Hitze zeichnen sich am Horizont, wie eine Fata Morgana, zwei rotgesichtige Gestalten ab, die, näher kommend, mit irgendetwas herumfuchteln. Dann sieht man: Sie schwingen Golfschläger. Helle Steine markieren die acht Löcher. Grüns gibt es nicht. Jeder Schlag lässt eine Wolke roten Staubs aufsteigen.

„Sport spielt eine zentrale Rolle im Leben eines Australiers“, urteilt der australische Sportwissenschaftler Richard Cashman in seinem Buch „Das Paradies des Sports“. Die Sportverrücktheit vieler Australier zeigt sich selbst in den abgelegensten Winkeln des Outback. Sport ist in diesen einsamen Ortschaften des australischen Hinterlands sogar besonders wichtig. Dort, wo es kaum etwas anderes gibt, schreibt Cashman, sei der Sport „der soziale Zement, der die Gemeinden, das ganze Land, zusammenhält“. Sport, begeistert sich der australische NOK-Präsident John Coates, „ist extrem wichtig für unsere nationale Identität. Bis zu den Spielen in Melbourne 1956 haben viele Menschen auf der Welt nicht einmal gewusst, dass es uns gibt.“

60 Prozent der AustralierInnen treiben Sport, viele der restlichen 40 Prozent sehen sich Sport zumindest im Fernsehen an oder hören tagelange Cricketübertragungen im Radio. Kein Politiker kann sich der Sportbegeisterung seiner Wähler entziehen. Paul Keating, der einzige australische Premierminister, der lieber zu Kulturereignissen als zu Sportveranstaltungen ging, wurde in der Presse lächerlich gemacht. Sein erzkonservativer Nachfolger John Howard dagegen weiß die Bedeutung des Sports für seine Karriere zu schätzen: Er gibt sich als eingefleischter Cricketfan, der sich kein Spiel entgehen lässt und dabei live mit Fernseh- und Radiokommentatoren fachsimpelt. „Er mag ein Reaktionär sein, aber er weiß was über Cricket“, preisen ihn selbst Vertreter der Gewerkschaften, die Howards missionarisch betriebener Wirtschaftsrationalismus in ihrer Macht arg beschnitten hat.

„Wir alle wachsen mit Sport auf“, schwärmte unlängst Außenminister Alexander Downer, „ich habe für meine Schule Rugby und Tennis gespielt, aber ich war nie gut genug für die Ehre, Australien zu vertreten. Deswegen bin ich Politiker geworden.“ Er erntete Beifallsgelächter.

Sport hatte schon zu Beginn der weißen Kolonisierung Australiens eine besondere Bedeutung. Ihre Sportbegeisterung hatten die ersten Kolonisten, Sträflinge und ihre Bewacher schon aus Großbritannien mitgebracht. Die Weite des Landes, die vielen Strände und das milde Klima der Küstenstreifen erwiesen sich für traditionell britische Sportarten wie Cricket und Rugby als ideal. „Abgesehen von Sport gab es hier damals auch nicht viel“, sagt der Historiker Richard Waterhouse. Die Kolonisten freuten sich besonders, wenn ihre Mannschaften die Teams des Mutterlandes schlugen. Die Menschen in der Sträflingskolonie am „anderen Ende der Welt“ litten unter erheblichen Minderwertigkeitskomplexen. „Mit sportlichen Siegen konnten sie zeigen, dass sie körperlich gesund und stark waren und auch moralisch weit genug gefestigt, um in den Sportarten der Gentlemen, der feinen Gesellschaft, das Ideal des britischen Fair Play zu erreichen.“ Gleichzeitig, so Waterhouse, entwickelte sich in Australien aber auch ein anderer Sport: der Sport der Unterdrückten, der sich auflehnenden ehemaligen Sträflinge. Sie besuchten Hahnenkämpfe, Faustkämpfe und wilde Pferderennen durch die Straßen der Kolonie. Die meisten wurden von Kneipenbesitzern organisiert, die dabei Alkohol ausschenkten. So begann die Verbindung zwischen Sport und Alkohol, die in Australien heute noch Bedeutung hat: Die Brauereien sind die größten Sportsponsoren. Sport war von Anfang an auch eng mit Glücksspiel verbunden. Noch heute wetten die Australier auf alles, was sich bewegt: privat, in Wettbüros, über das Internet.

Allein bei einem Pferderennen im November, dem Melbourne Cup, verwetten sie Abermillionen. Jeder Politiker, jedes Büro, jede Kneipe im entlegensten Hinterland, selbst Bischöfe und der Premierminister machen mit. Für das Rennen steht das ganze Land still. Im Staat Victoria ist der Renntag staatlicher Feiertag. Sportereignisse wie der Melbourne Cup einigen die Gesellschaft, meint der Historiker Waterhouse, „sie verleihen uns das Gefühl, einer gemeinsamen Kultur anzugehören“.

Vor allem spezifisch australische Sportarten stärken das Gefühl einer nationalen Identität. Australian Rules Football ist eine davon. Jedes Saisonwochenende sehen sich Zehntausende Australier diesen rasend schnellen Sport in den Stadien an. Millionen verfolgen die Spiele im Fernsehen oder Radio. Strickende Großmütter und in den Vereinsfarben bemalte Babys sind in den Rängen sicher. AFL ist für viele Einwandererkinder wie für die Aborigines ein Weg zu Wohlstand und Anerkennung. Selbst vor 1967, als die Ureinwohner noch keine vollen Bürgerrechte hatten, gab es schon schwarze AFL-Helden. Einer von ihnen, Douglas Ralph Nicholls, wurde später ein „Sir“ und Gouverneur von Südaustralien. Auch Aboriginesaktivisten, wie Charles Perkins, kamen durch den Sport zur Politik. Ihre sportliche Brillanz überwand den Rassismus in den „weißen“ Sportverbänden und in der australischen Gesellschaft. Millionen Australier verehren heute die 400-Meter-Sprinterin Cathy Freeman, den Footballspieler Nicky Winmar oder die Sprinterin Nova Peris Kneebone – selbst diejenigen, die alles tun würden, um zu verhindern, dass eine Aboriginesfamilie in ihre Nachbarwohnung einzöge.

In Australien steht der Sport allen offen. Das Klima ist ideal. Selbst in der kleinsten Gemeinde gibt es Sportplätze, Schwimmbäder, Seen oder Meeresstrände. Selbst Golf, Tennis, Reiten und Segeln sind erschwinglich und werden bisweilen an den Schulen angeboten.

Sportwissenschaftler unterstreichen die romantische Auffassung von Sport für Australiens nationale Psyche. Selbst in Kriegszeiten war Sport die bevorzugte Erholung und Ablenkung australischer Soldaten. Der 83-jährige Frank Walker erinnert sich an seine Zeit als Marineleutnant im Zweiten Weltkrieg, in dem australische Soldaten im Pazifik gegen die Japaner kämpften. Zwischen Einsätzen im grausamen Krieg spielte seine abgemagerte Mannschaft an Stränden und auf Dschungellichtungen Aussie Rules Football oder Wasserpolo in haiverseuchten Gewässern: bewacht von Matrosen mit Maschinengewehren. Fußbälle und Cricketschläger waren damals die „wichtigste Ladung an Bord“, denn „Sport war besser als Denken“.

1915 kämpften Tausende junge Aussies gegen die mit den Deutschen verbündeten Türken. Nach neun Monaten des Blutvergießens, bei dem über 10.000 Australier starben, wurde der Rückzug angeordnet. Doch bevor die Soldaten dem Aufruf folgten, veranstalteten sie noch ein Cricketspiel, mitten auf dem Schlachtfeld im Kugelhagel. Erst als die Türken die Geduld verloren und schwere Geschütze einsetzten, „einigten sich beide Seiten auf ein Unentschieden und zogen sich zur Teepause zurück“, so ein Augenzeuge.

Neben den mit Siegesparaden gefeierten Sporthelden der Nation verblasst die Leistung australischer Künstler, Schriftsteller, Maler, Wissenschaftler, Architekten und Forscher. Viele Intellektuelle hassen die australische Sportbegeisterung, die ihnen nicht nur Achtung, sondern auch Gelder entzieht. Der australische Schriftsteller Tom Kenneally, Autor von „Schindlers Liste“, verteidigt jedoch die Sportbesessenheit seiner Landsleute: „Sport spiegelt das Leben wider: Krieg, Familie, Politik.“ Er unterstreicht die Gemeinsamkeiten zwischen Künstlern und Sportlern. „Beide können in ihrem Wirken eine unbewusste, aber göttliche Anmut erreichen.“

Sydney 2000 hat die sportverrückte Nation in heillose Aufregung versetzt. Hunderttausende haben den hunderttägigen Zug der Fackel durch das Hinterland des australischen Kontinents begeistert gefeiert. Kinderchöre üben seit Wochen speziell für Olympia geschriebene Lieder, besonders ausgebildete „Begrüßer“ proben ihr bestes australisches „Gooday Mate“ für ein stilechtes Willkommen der Touristenströme. Wer den Sportrummel nicht ertragen kann, hat die Stadt verlassen. Ab sofort gibt es kein Entkommen mehr.

Hinweise:Sogar strickende Omas ergötzen sich an dem rauen Gemetzel, das sie Aussie Rules Football nennenSchriftsteller, Maler, Künstler, Forscher und Intellektuelle hassen die örtliche Sportbegeisterung