„Alles Phantasie und Diabolik“

Seine Märchen versprühen einen faszinierenden Schrecken. Nun sind die Tagebücher des Hans Christian Andersen auf Deutsch erschienen. Während in den Märchen der Klartext eines gequälten Lebens aufscheint, war Andersen im Tagebuch ununterbrochen mit Normalisieren beschäftigt

von MICHAEL RUTSCHKY

Dass Andersen (1805–1875) Romane und Dramen schrieb, verzeichnet die Literaturgeschichte; im Übrigen sind sie vergessen. Seinen Nachruhm verdankt er den Märchen, und es handelt sich, weil man uns Märchen ja in einem sehr früher Lebensalter vorliest, um einen sozusagen sehr gründlichen Nachruhm.

Viele von Andersens Märchen besitzen seit der Kindheit den Rang von Konzepten oder Modellen. So vergeht keine Diskussion über neueste Kunst, ohne dass „des Kaisers neue Kleider“ erscheinen. Das sind gar keine; der Kaiser hat sich in seiner Eitelkeit einen Kleiderstoff aufschwatzen lassen, der angeblich für alle Tölpel unsichtbar bleibt, während die Edlen seine Schönheit unmittelbar erkennen – erst das unschuldige Kind spricht es aus, als der Kaiser in den neuen Klamotten zu paradieren meint: „Aber er hat ja nichts an!“ Dies aufgeweckte Kind, das sich den Augenschein nicht durch Machtinszenierung verstellen lässt, gibt doch jeder gern, und Andersens Märchen erhebt das Kind zu einem anthropologischen Modell.

Nicht anders die „Prinzessin auf der Erbse“. Um die hohe Abkunft eines abends durchnässt hereingeschneiten Mädchens zu testen, legt die alte Königin auf den Boden des Bettes eine Erbse, darauf zwanzig Matratzen sowie zwanzig „Eiderdaunen“ (die liebte ich als Kind besonders) – und am anderen Morgen hat das zarte Mädchen kein Auge zugetan, was seine Herkunft bekräftigt. Andersen, den Heinrich Heine als einen Dichter, „wie die Fürsten sie gern haben“, verachtete, bewundert die aristokratische Empfindlichkeit – es steht uns aber frei, die „Prinzessin auf der Erbse“ als anthropologisches Modell für eine Art Empfindsamkeitsterrorismus zu nehmen, der jeden Wetterwechsel als existenzielle Krise verwendet und stets auf der Suche nach Katzenhaaren ist, um die eigene Anfälligkeit für Allergien zu testen.

Und so könnte ich fortfahren. „Das hässliche junge Entlein“ verwendet das Traummaterial des von Freud so genannten „Familienromans“ – ich stamme gar nicht von meinen alltäglichen Eltern ab, sondern von höheren und edleren, und eines Tages öffnet sich der Himmel, und eine gewaltige Stimme spricht: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe . . .“ Und damit sind wir bei einer recht prekären Schicht von Hans Christian Andersens Nachruhm.

Viele seiner Märchen erinnere ich mit nicht weniger Schrecken als die Romane von Charles Dickens (mit dem Andersen, gern auf Reisen und um Kontakte mit zeitgenössischen Geistesgrößen heftig bemüht, Umgang pflegte). „Oliver Twist“ nimmt es, auch in gereinigter Form, mit vielen Märchen Andersens auf. Die „kleine Seejungfrau“ verliebt sich in den schönen Menschenprinzen; um aber menschliche Beine statt des Fischschwanzes zu erhalten – Beine, die dann andauernd heftig schmerzen werden –, muss sie ihre Zunge der Meerhexe opfern. So kann sie nur stumm um den Prinzen werben, und der nimmt natürlich eine andere, und die kleine Seejungfrau verwandelt sich in den toten Schaum auf der Woge. Dass Andersen sie dann zu den „Töchtern der Luft“ entrückt, muss mich als Kind kalt gelassen haben; das ätherische Happy End war mir komplett entfallen.

Gerade anlässlich der kleinen Seejungfrau ist viel über Andersens Liebesleben spekuliert worden. In meinem Kopf hatte sich festgesetzt, dass es sich um einen despektierlich so genannten Klemmschwulen handelte, einen nicht praktizierenden Homosexuellen – für den nach der Veröffentlichung seiner Tagebücher ja auch Thomas Mann gern gehalten wird (dessen Verarbeitung von Andersens „Schneekönigin“ im „Zauberberg“ Michael Maar eine viel bewunderte Studie gewidmet hat).

Wenn man nun Hans Christian Andersens Tagebücher liest – die jetzt in der Auswahl und Übersetzung von Gisela Perlet beim Wallstein Verlag zu haben sind –, wird man auf keine homosexuellen Affekt-Ausarbeitungen (wie bei Thomas Mann) stoßen. Andersen war – sieht man von Kürzeln ab, die (vielleicht) Masturbation verzeichnen – so gut wie ohne jedes Sexualleben. Zuweilen werden Verliebtheiten skizziert, beispielsweise in die Sängerin Jenny Lind, in die verliebt zu sein freilich fast alle Männer der Zeit sich rühmten. Andersen verzeichnet auch Bordellbesuche; doch lobt er sich dafür, mit den Damen nur geplaudert zu haben. Erregende Gedanken, auch Worte, waren beinahe immer schon zu viel. „Nach Tische fragte mich George O’Neill, ob ich denn nicht ficken wolle, ich hätte es gewiss nötig“, notiert Andersen am 4. Juli 1866, auf Reisen in Portugal, an einem heißen Sommertag.

Allgemeiner gesagt, Hans Christian Andersen benutzte sein Tagebuch, an dem er andauernd schrieb, in keiner Weise als Geständnisorgan (dessen Lustmöglichkeiten Thomas Mann in seinem nicht weniger zwanghaften Tagebuchschreiben ja so glorios ausprobiert hat). Man kann sogar den Eindruck gewinnen, das Tagebuch diene ausschließlich der Vermeidung jedweden Geständnisses, es solle dem Schreiber ein rundum alltägliches Leben vorspiegeln. Dahinter aber, von Normalität verdeckt, wüst tobende Gedanken.

„ . . . um 3 Uhr fuhr ich mit Diener zum Schloss, wo mich Kammerherr Hofmarschall von Meyerinck empfing! – Der König war sehr gnädig, sprach viel vom ,Spielmann‘ [ein Roman Andersens], sagte, er habe in Kopenhagen gleich nach mir gefragt, meine Märchen kannte er nicht, die Königin bedauerte die Krankheit unserer Kronprinzessin, sprach herzlich von den Majestäten. An der Tafel saß ich zwischen Humboldt und dem Hofmarschall“ – und in dieser Manier beginnt es 1925, als Andersen, ärmster Leute Kind, immerhin noch seine Schulqualen einträgt, und es endet 1875, mit Aufzeichnungen seiner Pflegeperson, von denen sich mir aber eingeprägt hat, dass Sterben eine tief verwirrende Angelegenheit sein kann: „Ich weiß überhaupt nichts“, antwortete der todkranke Andersen, als er nach seinem Befinden gefragt wird.

Das Tagebuchschreiben, wurde öfter bemerkt, ist mit dem ökonomischen Bilanzieren innig verwandt. Lebensvorgänge werden wie Einnahmen und Ausgaben listenartig verzeichnet und im Hinblick auf Gewinn oder Verlust verrechnet. Was in Hans Christian Andersens Tagebüchern fehlt, das sind gewissermaßen die Ausgaben; der Schreiber scheint intensiv damit beschäftigt, dass überhaupt etwas zu verzeichnen ist – und nicht alles in einem schwarzen Wirbel aus Zwangsgedanken und Panik untergeht. Dies Tagebuchschreiben ist ein ununterbrochenes Normalisieren: Wenn ich aufschreiben kann, wann ich morgens erwacht war, was ich zu Mittag gegessen, wen ich nachmittags getroffen, welches Theaterstück ich abends angeschaut und dass ich nachts, nach einer halben Flasche Champagner, flüchtig sexuelle Einfälle hatte, dann ist Tag für Tag nicht einfach verloren. Es gibt ja jede Menge Text.

Nur ganz selten dringt in Andersens Tagebuch durch, welche Dämonen ihn wirklich Tag für Tag peinigten: „Alles Phantasie und Diabolik.“ Mir scheint, das solche Eintragungen im Altern zunehmen. Hier eine vom 16. Juli 1871, da ist er 66 Jahre alt. „Heute morgen wurde ich gegen 4 Uhr davon wach, dass ich im Schlaf meinen Arm kratzte, gerade dort, wo die Pocken gesetzt sind (die Impfung), ich riss die Wunde auf und erschrak, denn ich fürchtete mich vor den Folgen, dachte mir, dass der Arm anschwellen würde, dass kalter Brand hineinkommen könnte, und dass er abgetrennt werden müsste, was für mich hieße, einen qualvollen Tod zu sterben. Ich fühlte mich wie in einem Dampfbad [. . .] Ich lag angsterfüllt da bis gegen sieben Uhr, dann fiel ich in Schlaf.“ Die schönen Zeiten der frühen Psychoanalyse, als man den beschriebenen Vorgang ungescheut als sexuellen dechiffrieren durfte, sind ja leider vorbei.

Im Übrigen ist Andersens Irritierbarkeit und Empfindlichkeit von außen, Freunden und Bekannten, gut bezeugt. Er muss eine recht peinliche Persönlichkeit gewesen sein. Manche Fotografien rufen die bösartige Charakteristik des Dichters Stefan George in Erinnerung: Er sieht aus wie eine alte Frau, die wie ein alter Mann aussieht . . .

Viele werden den (faszinierenden) Schrecken, den ihnen die Märchen Hans Christian Andersens in der Kindheit einjagten, noch gut im Kopf haben. Meinen Band (Knaur 1938) illustrieren die lieblichen Aquarelle von Ruth Koser-Michaëls, über deren Betrachtung das noch analphabetische Kind viel Zeit verbracht hat – und die Lieblichkeit dieser Aquarelle verleiht der Härte des Textes die richtige Schärfe.

Im Mittelpunkt von „Das Feuerzeug“ stehen drei Hunde. Der erste hat Augen groß wie Teetassen; beim zweiten sind sie groß wie Mühlräder, beim dritten groß „wie ein Turm“ – in einer anderen Übersetzung (Diedrichs 1909) sind sie „groß wie der ‚runde Turm‘“, vermutlich eine Kopenhagener Sehenswürdigkeit. Ruth Koser-Michaëls hat gar nicht erst versucht, die Hundeaugen zu verbildlichen, und ich erinnere mich genau, wie ich als Kind mir immer wieder erfolglos die Hunde vorzustellen versucht habe. Ich war mit Hunden wohl vertraut – wie sollte der mit den Mühlradaugen auch nur frei laufen können?

Die Hunde verfügen über allerlei Zauberkräfte, die dem Soldaten, der der eigentliche Held des Märchens ist, vielfach von Nutzen sind und ihm am Ende, als er gehängt werden soll, das Leben retten sowie die schöne Prinzessin und den Königsthron einbringen. „,Helft mir nun, dass ich nicht gehängt werde!‘ sagte der Soldat. Und da fuhren die Hunde los auf den Richter und den ganzen Rat, nahmen die einen bei den Beinen und den andern bei der Nase und warfen sie viele Klafter hoch in die Luft, so dass sie niederfielen und in lauter Stücke sprangen.“ Kein Wunder, dass das Lamento, welches heute gegen Gewalt im Fernsehen geht, sich früher gegen Märchen richtete. Jedenfalls habe ich in meinem Andersen-Band hier und da bei den Koser-Michaëls-Aquarellen die Augen der Figuren mit Bleistift zugeschmiert.

Man darf also die Märchen Hans Christian Andersens als Klartext eines gequälten Lebens lesen, das von den Tagebüchern bis zur Unkenntlichkeit normalisiert wird. Dem Schriftsteller Andersen gelang es, seine Märchen für das kindliche Seelenleben perfekt anschlussfähig zu machen, weshalb viele erinnern, von wem sie in der Kindheit vorgelesen worden sind. Gleichwohl, es handelt sich bei Hans Christian Andersens Märchen eher um ein eigenes Genre kindlicher Schauerliteratur – keinesfalls um gute Gaben eines milden Onkels an die lieben Kleinen.

Hans Christian Andersen: „Ja, ich bin ein seltsames Wesen. Tagebücher 1825–1875“. Aus dem Dänischen von Gisela Perlet. Wallstein Verlag, Göttingen 2000. zwei Bände, zusammen 800 Seiten, 148 DM