Kulissen fabrikförmiger Lebensstile

Bewahren und Pflegen: Beim Denkmalschutz von Industriebauten geht es letztlich immer um die Frage nach dem Kulturbegriff. Eine Erwiderung auf die umstrittenen Thesen der kulturpolitischen Sprecherin der Grünen, Antje Vollmer, zur Denkmalpflege

Kaum nachvollziehbar ist Antje Vollmers Attacke gegen die Nachkriegsmoderne besonders im Osten der Stadt

von URSULA SCHNEIDER

Kulturpolitik scheint auf dem ersten Blick nicht gerade das Terrain zu sein, auf dem sich bündnisgrüne Fachkompetenz tummelt. Dennoch gibt es Gründe genug, sich von dieser Seite einzumischen. Schließlich tragen auch grüne Abgeordnete auf kommunaler und landespolitischer Ebene Verantwortung für Probleme des Denkmalschutzes.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. Juni trug nun Antje Vollmer einige Thesen in Sachen Denkmalschutz vor und plädierte für den Aspekt der „Schönheit“ als vorrangigen Denkmalwert; in der Architektur nach 1840 mochte sie folglich nur wenig Schützenswertes erkennen. Die Reaktionen in den überregionalen Feuilletons auf diesen Vorstoß der kulturpolitischen Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen sorgten zwar parteiintern für Irritationen, aber eine öffentliche Auseinandersetzung damit fand nicht statt. Nur die Berliner Grünen haben sich bisher, kürzlich in der taz, kritisch zu Wort gemeldet.

Mit gutem Grund, denn bei der Lektüre von Antje Vollmer fragt man sich immer wieder, ob die kulturpolitische Sprecherin weiß, wovon sie redet. Sie registriert politische Auseinandersetzungen, die „auffällig häufig um Denkmalfragen“ kreisen, und führt dann als Belegstücke das Mahnmal für die ermorderten Juden Europas, das Jüdische Museum, die Verhüllung des Reichstags, seine Kuppel und die Kunst, die er im Innern beherbergt, sowie die Rekonstruktion des Berliner und des Potsdamer Schlosses an – also samt und sonders Projekte, die mit Denkmalpflege im Sinne des in den Ländergesetzen formulierten öffentlichen Auftrags wenig bis gar nichts zu tun haben. Dieser zielt auf die Erhaltung von Bauzeugnissen auf Grund ihrer „geschichtlichen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bedeutung oder zur Bewahrung charakteristischer Eigenheiten des Stadtbildes“.

Diese in den Siebzigerjahren formulierten und – praktizierten – Begründungen für Denkmalschutzwürdigkeit enthalten bereits das, was Antje Vollmer erst seit 1989 zu beobachten glaubt: die Ausweitung und inhaltliche Veränderung des Denkmalbegriffs vom Aspekt des Schutzes traditioneller Kulturgüter „zum Sammeln von typischer Bausubstanz bestimmter Zeitepochen“. Damit, so folgert Vollmer irritierenderweise, trete „der kulturelle Aspekt“ zurück und der „politisch-pädagogische Charakter“ gewinne an Gewicht.

Spätestens hier stellt sich die Frage nach dem Kulturbegriff der Grünen-Sprecherin. Offensichtlich gehört sie nicht zu denen, die in den Siebzigerjahren im Sinne einer Demokratisierung von Kultur dafür plädiert haben, beispielsweise auch die unterschiedlichen Versuche der Lösung der Arbeiterwohnungsfrage des 19. Jahrhunderts in Baudenkmälern vorzuhalten – das heißt anschauen zu können, welche Gebäude- und Wohnungszuschnitte bürgerliche Fürsorge für Arbeiterfamilien für angemessen und sittlich erachtete, wie und aus welchen Gründen und Überlegungen sich die „Standards“ in den letzten 100 Jahren verändert haben. Staatlich bezahlten Hamburger Denkmalpflegern gelang es in den Achtzigerjahren – mit Unterstützung von Hausbesetzern und einigen Stadtplanern –, sich in wenigen Fällen gegen die Abrisspläne einer Licht-Luft-und-Sonne-Sozialdemokratie durchzusetzen. Heute stehen diese Baudenkmäler nicht nur für verschiedenen Antworten auf die Arbeiterwohnungsfrage, sondern sie sind auch beliebte innerstädtische Wohnstandorte geworden.

Ähnliches gilt für ortstypische, denkmalgeschützte Industriebauten in Hamburg-Ottensen, die nach dem Niedergang der hafenbezogenen Industrien nun neue Nutzer gefunden haben: Stadtteilkulturzentren und Wohnprojekte. Überdies zählen sie seit einigen Jahren zu den bevorzugten Adressen der Medienbranche. Eine aufmüpfige Bewohnerschaft, einige weitsichtige Stadtplaner, Politiker, Investoren und Denkmalpfleger haben für die Rettung dieser Industriebauten gekämpft und für jedes einzelne Objekt dem Baudenkmal und der neuen Nutzung angemessene Kompromisse gefunden. So steht das Beispiel Ottensen für eine Industriedenkmalpflege, die über die Erhaltung des quartierstypischen architektonischen Erbes hinausgeht. In Verbindung mit staatlichen Sanierungsmaßnahmen ist sie Teil eines sozialen und kulturellen Erneuerungsprozesses dieses Stadtteils unter veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen. Dies könnte auch für das Industrieareal Berlin-Oberschöneweide gelten, das Antje Vollmer als Beispiel inflationärer Denkmalausweitung auflistet.

Oberschöneweide gehört zu den bedeutendsten Fabrikquartieren Deutschlands und kann sich mit Anlagen an Rhein und Ruhr durchaus messen. Von hier – und aus der Berliner Siemensstadt – sind um die Jahrhundertwende wichtige Impulse ausgegangen, haben Konzerne wie die AEG Weltgeltung erlangt oder Baukünstler wie Peter Behrens und „Wirtschaftskapitäne“ wie Emil Rathenau einer neuen Industrie- und Unternehmenskultur den Weg gebahnt. Berlins Aufstieg zur größten Industriemetropole des Kontinents fand vor hundert Jahren in Oberschöneweide seinen städtebaulichen und architektonischen Niederschlag. Oberschöneweide prägte Kultur und Lebensweise von Zehntausenden, zuweilen von der Wiege bis zur Bahre.

Heute ist Oberschöneweide ein Schwerpunkt der Berliner Industriedenkmalpflege; seit dem Fall der Mauer auch ein Zentrum der sozialen Stadterneuerung und des Quartiersmanagements. Der in den letzten Jahren schrittweise für eine neue Nutzung instand gesetzte, umgebaute oder zwischengenutzte Denkmalbestand ist das wichtigste Potenzial für eine soziale und kulturelle Wiederbelebung dieses Quartiers, das einzige Pfund, mit dem es wuchern kann. Die aktuelle stadtentwicklungspolitische Diskussion um die Ansiedlung einer – andernfalls überwiegend in Neubauten unterzubringenden – öffentlichen Nutzung durch die Fachhochschule für Technik und Wirtschaft könnte nicht nur den Industriebauten, sondern auch dem Ort eine neue Perspektive eröffnen.

Kaum nachvollziehbar ist Antje Vollmers Attacke gegen die Nachkriegsmoderne, besonders im Osten der Stadt. Schließlich gehörte es zur Einmaligkeit Berlins, dass hier wie an keinem anderen Ort der Welt die städtebaulichen und architektonischen Konzepte der beiden Systeme in ihrer Gegnerschaft und in ihrem Aufeinanderreagieren vor Augen stehen. Noch – denn einige als Baudenkmäler eingetragene Objekte wie das Haus des Lehrers oder das Café Moskau sind gefährdet, und das Ahornblatt wird gerade abgerissen, gegen das Votum von Bürgerinitiativen und 1.200 von der Architektenkammer gesammelten Unterschriften. Hier hat Antje Vollmer nur in einem Punkt Recht: Wo Investoreninteressen im Spiel sind, stellt sich die Politik in der Regel nicht vor die Baudenkmäler.

Uninformiert zeigt sich Antje Vollmer auch, wenn sie von „östlicher Nostalgie“ spricht oder „die ersten Plattenbauten Unter den Linden“ ins Feld führt. Denn bei den angesprochenen Botschaftsbauten handelt es sich weder um „Platten“ und schon gar nicht um die ersten Beispiele in Berlin. Die Botschaften der ehemaligen Volksrepubliken Polen und Ungarn verdanken ihren repräsentativen Standort vor allem der geopolitischen Nachkriegskonstellation, als in der Nähe der Mauer und im Schatten der sowjetischen Botschaft ein kleines bündnistreues Diplomatenviertel entstehen sollte. Dabei nahmen die Botschaftsbauten mit ihren gerasterten Vorhangfassaden vom historisierenden Monumentalstil der gegenüberliegenden Sowjet-Mission aus der Stalin-Ära unmissverständlich Abstand und suchten Anschluss an den International Style der Nachkriegsmoderne. Gerade dieses Mit- und Gegeneinander der Bauten legt im Stadtraum historisches Zeugnis ab vom außenpolitischen und städtebaulichen Anliegen der Botschaftsansiedlung in der „Hauptstadt der DDR“.

Der Hauptstadtumzug von Bonn nach Berlin hat vielleicht nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um bundeseigenen Denkmalimmobilien eine sinnvolle Erhaltungs- und Nutzungsperspektive zu bieten. Aber die Absage des ehemaligen Umweltministers und damaligen Bauministers Klaus Töpfer an Abrissforderungen für „gigantomanische“ NS- und SED-Zeugnisse hat sowohl unter ökologischen als auch unter kulturellen Aspekten mehr für eine nachhaltige Stadtentwicklung geleistet, als es die Eliminierung dieses schwierigen Erbes deutscher Geschichte vermocht hätte. Diese Richtung weiterzuverfolgen, stünde auch den Grünen gut an.

Die Autorin ist Kulturhistorikerin am Museum für Arbeit in Hamburg und Grüne Fraktionsvorsitzende in Hamburg-Mitte