Alternativmedizin auf Kuba

Die wirtschaftliche Misere zwingt die Kubaner zunehmend auf alternative Arzneimittel zu setzen. Immer mehr Mittel aus der Schulmedizin werden durch Naturprodukte ersetzt. Die traditionelle Medizin wird systematisch erforscht

Auf der Suche nach Alternativen zur Schulmedizin und zum kostspieligen Medikamentenimport hat sich Kuba auf die Hausmedizin und die Kraft der Heilkräutern besonnen. Töpfe und Tiegel mit alternativen Medikamenten gegen Nierenleiden, Bronchitis, Asthma oder Menstruationsbeschwerden finden sich in nahezu jeder Apotheke zwischen Havanna und Santiago.

Die voluminösen Edelholzregale der Johnson-Apotheke im Herzen Havannas sind gut gefüllt. Unzählige braune Glasfläschchen säumen die endlosen Regalbretter. Eucalipto ist auf dem gedruckten Etikett einer der kleineren Fläschchen zu lesen. Darüber stehen bauchige Flaschen mit einer Tinktur gegen Nierenleiden. Daneben ist der Hustensaft deponiert auf den Analaura Arresu schwört. Die 36-jährige Ärztin hat eine kleine Töchter, die zu bronchialen Infekten neigt. Das auf Kräuterbasis hergestellte Präparat bekommt der Kleinen gut. Die schlanke Ärztin im weißen Kittel arbeitet in der Apotheke in der Altstadt, ehemals eine der feinen Adressen Havannas. Frau Arresu nimmt ihren Job ernst. Geduldig erklärt sie einer älteren Dame die Wirkungsweise eines Kortisonpräparats. Sie verweist auf die Nebenwirkungen, erkundigt sich nach der Schwere der Beschwerden und empfiehlt ihr schließlich, es doch einmal mit einem Alternativprodukt zu versuchen. Die Kundin fährt sich über die grau melierten Haare, überlegt und nickt schließlich. Frau Arresu lächelt und reicht einen Tiegel mit Aloe-Vera-Creme gegen den juckenden Hautausschlag über den Tresen.

Alternative Medizin ist en vogue in Kuba. Weit über 30 Produkte sind es, die in den letzten Jahren entwickelt wurden und in beinahe jeder Apotheke zwischen Havanna und Santiago zu haben sind. „Für mich sind die neuen Präparate eine echte Alternative zur klassischen Schulmedizin“, sagt Doktor Arresu. „Ich halte nichts davon, bei leichten Erkrankungen gleich zu chemischen Mitteln zu greifen, wenn es auch anders geht.“

Steigende Umsätze

Von Jahr zu Jahr steigen die Verkaufszahlen von Tinkturen, Säften, Cremes und Pillen der medicina verde, der grünen Medizin. Fünf bis zehn Prozent des Medikamentenverkaufs entfallen derzeit auf die alternativen Produkte aus Heilkräutern, Samen oder Mineralien, schätzt Raúl Silva vom Forschungszentrum für die Medikamtenentwicklung (Cidem). „Die Akzeptanz der Bevölkerung steigt, und wir versuchen das Angebot kontinuierlich zu erweitern“, sagt der Forscher.

Den Anstoß für die Wiederentdeckung der traditionellen Medizin, so die offizielle Wortwahl, lieferte die kubanische Armee (FAR). Ende der 80er-Jahre betraute sie einen Stab von Wissenschaftlern damit, traditionelles medizinisches Wissen für die Nachwelt zu erhalten. Bauern und die wenigen Nachfahren der beiden in Kuba ehemals ansässigen Indiostämme, die Taínos und Siboneyes, wurden interviewt. Ihre Kenntnisse, aber auch die der Feldärzte der mambises, so wurden die Kämpfer in den beiden kubanischen Unabhängigkeitskriege genannt, lieferten wertvolle Anregungen für die Entwicklung und Erforschung zahlreicher Heilkräuter. „Durch die Nachkommen der mambises haben wir fünf traditionelle Heilkräuter wiederentdeckt. Unser Potential ist riesig, denn in Kuba gibt es eine Vielfalt an endemischen Pflanzen“, betont der 35-jährige Pharmakologe.

Im Institut werden derzeit 25 verschiedene Pflanzen auf ihre Wirkungsweise untersucht. Landesweit laufen 242 Studien zur Verträglichkeit und Rezeptur neuer Phytopharmaka. Zahlreiche Anlagen zur Produktion von biomedizinischen Präparaten sind geplant. Jede Gemeinde hat bereits ein Zentrum für den Vertrieb von Heilkräutern und Essenzen an die Apotheken.

Auch in der Farmacia Johnson vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Tinkturen gebraut, abgefüllt und etikettiert werden. Im Labor hinter den bis knapp unter die Decke reichenden Regalwänden herrscht Hochbetrieb. Auf den weiß gekachelten Arbeitsflächen stehen etliche Flaschen, Trichter und Messbecher. Eine Laborantin im weißen Kittel füllt mit einem Messbecher eine tiefschwarze Flüssigkeit in kleine braune Flaschen. Der streng riechende dünnflüssige Saft läuft über den Deckelrand und tropft auf die Kacheln. Ihr gegenüber schöpft eine Kollegin mit zusammengebundenen Haaren eine blasenwerfende Tinktur aus einem Plastikeimer. Ein Klopfen lässt die Frauen in ihrer Arbeit innehalten. Ein schmerbäuchiger Mann im Unterhemd steht im Türrahmen vom Hintereingang des Labors. Pappkartons mit Nachschub für das gähnend leere Lager der Apotheke hat er auf seiner Sackkarre. Neue Flaschen, Etiquetten, Tiegel und Dosen, die gerade zur rechten Zeit kommen. „Es fehlt immer mal wieder an Verpackungsmaterial“, stöhnt Doktor Arresu, die auch für die Herstellung der Biomedizin zuständig ist.

Die Wirtschaftskrise und der chronische Devisenmangel in der Staatskasse verzögern des öfteren den Import von Rohstoffen. Auch die Medikamentenproduktion bleibt davon nicht verschont, so dass zeitweise bestimmte Medikamente in Kuba kaum zu kriegen seien, gibt die Ärztin unumwunden zu. Derartige Engpässe scheint die Armee vorausgesehen zu haben, weshalb sie auch den Anstoß für Forschung und Verbreitung der grünen Medizin gegeben habe, vermutet sie. Eine These, die auch Angela Alfonso, Vizedirektorin am Cidem nicht gänzlich von der Hand weisen will. „Zuerst einmal wurden die Forschungen aus wissenschaftlichem Interesse aufgenommen, aber unsere wirtschaftliche Situation hat aus dem Interesse eine Notwendigkeit gemacht“, sagt die 65-Jährige. Für die kleine stämmige Frau ist die grüne Medizin eine weitere Option für die Mediziner, ähnlich der Akkupunktur oder der Homöopathie, die sich ebenfalls steigender Beliebheit in Kuba erfreut.

Keine Wahlmöglichkeit

Die Substituierung von chemischen Präparaten ist dabei ein erfreulicher Nebeneffekt. Allerdings stoßen die Alternativpräparate bei den Patienten nicht immer auf Gegenliebe, denn oftmals bleibt ihnen keine andere Wahl, als das Naturprodukt zu nehmen, weil es nichts anderes gibt. Langfristig sollen die Patienten zwar zwischen beiden Produkten wählen können, aber davon ist man weit entfernt. Gleichwohl ist offizielles Ziel des Gesundheitsministeriums, für jede herkömmliche Medikamentengruppe ein Alternativprodukt auf den Markt zu bringen.

In einigen Forschungsfeldern, so bei den Kortikoiden oder den Antimykotika, gibt es für Alfonos viel versprechende Ansätze. „Internationale Berichte über Abwehrreaktionen bei Antiobiotika und Antimykotika sind ein Alarmsignal, und es ist ein Gebot der Stunde, Alternativen zu entwickeln“. Alternativen, die schnellstmöglich auch den Nachbarn und den Ländern des Trikont zur Verfügung stehen und einen Ansporn für die Erforschung und Bewahrung traditionellen Wissens erbringen sollen, hofft die Pharmakologin.

KNUT HENKEL