schwarze taz
: Jerome Charyn schreibt über Kokain aus Kolumbien und die Kindheit seiner Mutter

Die dunkle, schöne Erinnerung

Einer der außergewöhnlichsten Krimi-Autoren Amerikas ist Jerome Charyn. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert schreibt der in New York lebende Sohn jüdischer Einwanderer aus Weißrussland Bücher, die das Genre gegen den Strich bürsten. Charyn liebt die groteske Überzeichnung. Seine Figuren ähneln Comic-Helden, und die Welt, die er beschreibt, ist ein wild wucherndes Durcheinander aus pseudozivilisiertem Wahnsinn und nackter Barbarei.

Mit seinem neuen Roman verlässt Charyn sein angestammtes Terrain New York und führt die Leser in die wundersame Welt der Kokain-Hauptstadt Medellín. Hauptfigur ist die aus Kolumbien stammende und in New York lebende Gangsterbraut Yolanda. Sie wird von einer obskuren US-Regierungsorganisation aus dem Knast geholt, um als Lockvogel bei einer Aktion gegen einen mächtigen Koka-Baron zu dienen. Als Umweltschützerin getarnt, gelangt sie in die Hauptstadt der Drogenmafia und erlebt Medellín als hyperrealen Schauplatz ritualisierter Machtkämpfe von Gangstern, Politikern und ausländischen Mächten. In den wild wuchernden Wirren absurder regionaler Verschwörungen lernt sie einen legendären Tangokönig kennen, erlebt den Terror der Todesschwadronen, den Überlebenskampf einer Kindergang und trifft auf ihren einst heiß geliebten Cousin Ruben Falcone, der nicht nur als Koka-Baron zu unermesslicher Macht gekommen ist, sondern sich auch als Robin Hood und Hüter des Urwalds stilisiert.

Zahllose wahre und erfundene Details sowie Anspielungen auf die vermeintlich jüdischen Wurzeln der Kokain-Mafia, auf politiksüchtige lateinamerikanische Literaten wie García Márquez oder Vargas Llosa und Anlehnungen an historische Berühmtheiten wie den Tangokönig Carlos Gardel machen aus diesem rasanten Roman mehr als nur einen Thriller: Es ist das visionäre Porträt einer Stadt, in der sich der gesamte irrationale Wahnsinn des globalen Zeitalters konzentriert.

Leisere Töne findet Jerome Charyn in seinem autobiografischen Text „Die dunkle Schöne aus Weißrussland“. Bei der Lektüre dieser Erinnerungen an seine Mutter wird schnell klar, woher Charyns Drang zur fiktionalen Übertreibung kommt: Sein wirkliches Leben war zeitweise ein ähnlicher Taumel wie die Geschichten, die er später erdachte. Er wuchs in der Bronx auf, als Sohn einer armen Kürschnerfamilie. Während sein Vater sich zur Zeit des Krieges ganz patriotisch als Luftschutzwart betätigt, teilt seine Mutter in einem Spielsalon Karten aus.

In der Bronx der 40er-Jahre, dieser Ansammlung von Subkulturen mit separaten Machtstrukturen, scheinen die Wurzeln für Charyns visionäre Städteporträts in seinen späteren Romanen zu liegen. Wer in einem Flickenteppich verschiedenster Einwandererkulturen aufgewachsen ist, sieht die Welt natürlich mit anderen Augen als jemand, der ordentlich zwischen den Seinen und den Anderen unterscheiden kann. Und wer von Kindesbeinen an miterlebt hat, dass Verbrecher und Politiker gleiche Methoden benutzen, weiß um die Fragwürdigkeit moralischer Bekenntnisse.

Im Grunde genommen ist dieses Erinnerungsbuch auch eine Art Roman noir, denn es geht um Überlebenskämpfe in widrigen Verhältnissen, um private Komplotte und politische Intrigen, um Gangster und Korruption. Vor allem aber haben Charyn-Fans hier nach dem New-York-Porträt „Metropolis“ ein weiteres Werk in der Hand, das die mitunter rätselhafte Poetik dieses außergewöhnlichen Kriminalschriftstellers erklären kann. ROBERT BRACK

Jerome Charyn: „Der Tod des Tango-Königs“. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger. Unionsverlag/Metro, Zürich 2000. 254 S., 18,90 DM„Die dunkle Schöne aus Weißrussland“. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Alexander Fest, Berlin 2000. 142 S., 29,80 DM