Der Trash heiligt die Mittel

Auf die Analyse folgt der Terror: Christian Froschs Film „Die totale Therapie“ erfüllt den Tatbestand der Antipsychiatrie

Alle haben sie versagt: die Gesellschaftstheorien, die Kirchen, die Wissenschaften. Sie haben versagt, weil sie es nicht geschafft haben, den Menschen in seinem Ich zu befreien. Sagt Dr. Roman Romero. Deshalb pfeift er auch auf seinen Titel. Seine Lösung für die armen Seelen heißt Shirvia: zwei Wochen Gehirnwäsche in einem ruhigen Landhaus in den österreichischen Bergen, „in einer der schönsten Naturlandschaften Europas“. Für die einen ist es eine Instanttherapie aus dem unmöglichen Möbelhaus der Psychotricks. Für ihn ist es „das Ende der Therapie“. Entdecke die Möglichkeiten!

Dr. Romero ist ein zynischer Scharlatan, was wir schon daran erkennen, dass er von Blixa Bargeld gespielt wird. Voller Verachtung blickt der Alternativguru auf den Haufen Elender, der sich ihm anvertraut hat. Zum Beispiel das Komplexbündel Wolfgang (Lars Rudolph), ein Survival-Freak, der endlich das Abenteuer Ich abchecken will. Oder die dicke Eva, die endlich wieder glücklich werden will und sich ihr Problem in Form des Ehegatten gleich mitgebracht hat. Und, igitt, der Fernsehmann Christian, der in zwei Jahren Chef der Unterhaltung sein möchte und dafür wissen muss, wie man Menschen anpackt. Das weiß angeblich keiner besser als Dr. Romero. Manche seiner Opfer tun einem Leid. Andere sind „der lebende Beweis dafür, dass Gott tot ist“. Das sagt ausnahmsweise nicht Romero, sondern Annegien, die sich trotz traumatischer Vergangenheit einen Restverstand bewahrt hat und das alles „so blöd“ findet, wie es eben ist.

Insgesamt neun Schwer- und Schwerstgeschädigte sind hier beisammen, und wer sich mit keinem von ihnen identifizieren kann, hat vermutlich wirklich kein Problem. Was der österreichische Regisseur Christian Frosch nun genüsslich zelebriert, erfüllt den Tatbestand der Antipsychiatrie. Nicht nur, weil Eso-Praktiken wie Rebirthing, Tree-Hugging und Kissenschlagen genauso demontiert werden wie Gesprächstherapie und Aggressionstraining. Nein, Frosch nimmt Romeros Motto vom „Ende der Therapie“ ernst: Dr. Romero wird ermordet. Eine Aktion, mit der die Täterin auf ihrem Weg zur Selbsterfahrung einen gewaltigen Schritt weiterkommt.

So verfährt der Film im folgenden nach dem RAF-Prinzip: Der Analyse folgt der Terror. Der sich naturgemäß nicht aufs System beschränkt: Die Teilnehmer – durch tagelanges Schreien, Streicheln, Schimpfen hinreichend enthemmt – dezimieren sich selbst. Böses Blut im Aktionsraum. Doch was war schuld am Scheitern von Shirvia? War es Romeros Methode des Teilens und Herrschens? Dass etwa Günther seinen Vater hassen durfte, während das bei Wolfgang schon gar nicht mehr originell war?

Die Logik von „Die totale Therapie“ liegt darin, dass es keine gibt. Der Trash heiligt alle Mittel. Wobei der Trash vom bitteren Ernst nicht mehr zu unterscheiden ist, wenn man wie Frosch in seinem hochintelligenten Debüt selbst die eigene Ironie bricht. Das irritierendste Moment der Billigproduktion ist nämlich eine Besetzung mit dem Besten, was die Achse Berlin – Wien hergibt. Die knuddelige Walfriede Schmitt als Eva darf wunderbar menscheln – und zusammen mit der scharfzüngigen Annegien (Eva van Heijnigen) für die notwendige Würde sorgen, wenn sich die Männer mal wieder mit Handtüchern kloppen. Lars Rudolph in seinem Kampfanzug ist vermutlich auch privat irre. Und in einer Nebenrolle brilliert Sophie Rois, die es in letzter Zeit verdächtig oft in die Bergwelt verschlagen hat. Nur Blixa Bargeld enttäuscht ausgerechnet in der Hauptrolle, weil er mit seiner Theatralik zu keiner Zeit einen überzeugenden Sektenguru abgibt. Was ja andererseits auch der Grund für Romeros vorzeitiges Ableben sein könnte. Die totale Therapie kennt kein Entrinnen.

PHILIPP BÜHLER

„Die totale Therapie“. Regie: Christian Frosch. Mit: Blixa Bargeld, Walfriede Schmitt, Sophie Rois u.a. Deutschland/Österreich 1998, 122 Min.