Vergessener Glanz

Russland sucht seine Filmgeschichte. Anmerkungen zur Retrospektive „Eine andere Geschichte des sowjetischen Films“ auf dem Filmfestival in Locarno

von OKSANA BULGAKOWA

Spätestens seit einem Jahrzehnt wird in Russland nach einer anderen Geschichte gesucht. Die historische Neubewertung, ausgelöst durch die Perestroika, konfrontierte die Gesellschaft mit dem Imperativ, sich wieder an das zu erinnern, was man eigentlich zu vergessen gelernt hat. Diesem Streben folgte nun ein Festival im weit von Moskau entfernten Tessin mit einer Retrospektive zum sowjetischen Film. Natürlich griff der französische Filmpublizist Bernard Eisenschitz, unter dessen Leitung die Veranstaltung und eine dazu erschienene Dokumentation („Lignes d’ombres. Une autre histoire du cinéma soviétique“) konzipiert wurde, auf die Hilfe von russischen Kollegen zurück. Die Filmauswahl wurde, wie Eisenschitz im Vorwort schreibt, durch Gespräche mit Naum Klejman, dem Direktor des Moskauer Filmmuseums, beeinflusst und von anderen Moskauer Filmhistorikern und -kritikern präzisiert.

Eisenschitz’ Anspruch ist hoch: „Alle Filmgeschichten müssen neu geschrieben werden. Mehr noch als für andere Länder aber trifft das für die Sowjetunion zu (. . .) Wer sich heute immer noch weigert, seine nostalgischen Gefühle („Wunderbare Bilder im Dienst einer schlechten Sache“) und seinen späteren Moralismus („Die Filmemacher als Höflinge im Reich des Bösen“) in Frage zu stellen und die Sache etwas genauer zu untersuchen, verdient keine Entschuldigung (. . .) Niemand hat den Versuch unternommen, die Filmkanons der Filmklassiker zu öffnen.“ Die Veranstalter wollten nicht einfach 56 Filme zeigen, sondern die Zuschauer mit einem anderen Bild der sowjetischen Filmgeschichte konfrontieren und gleichzeitig „Leitlinien für deren Forschung“ ausgeben. Das Umstülpen des „alten Bildes“ sollte in Locarno durch die Wiederentdeckung vergessener Werke erfolgen sowie durch die Vorstellung vollständiger Fassungen verbotener Filme.

Als Eckdaten bestimmt Eisenschitz 1926 (die öffentliche Aufführung von Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“) und 1968 (Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag), die für ihn den Beginn und das Ende der sozialistischen Utopie markieren. Das Festival bezahlte für 30 Filme die Herstellung neuer Kopien, die den Grundstein für ein festivaleigenes Filmarchiv legen sollen. Doch da es im Tessin für die Aufbewahrung der Filme vorerst keine geeigneten Räume gibt, werden die Kopien in die Schweizer Cinemathèque in Lausanne wandern und von dort aus auf Tournee gehen.

Geschichtsschreibung auf Richtungssuche

Doch wie anders kann die sowjetische Filmgeschichte sein, die in Locarno in 57 Filmen, immerhin fast ein Prozent der sowjetischen Gesamtproduktion zwischen 1917 und 1991, präsentiert wird? Und in welche Richtung soll die neue Geschichtsschreibung gehen? In den 20er- und 60er-Jahren, als der Westen das „Russenkino“ der 20er entdeckte, wurde es als politische und ästhetische Alternative zu Hollywood verstanden. Ist dies noch zu halten, nachdem die politische Utopie ad acta gelegt wurde? Und kann ein rein ästhetisches Herangehen diesen im Grunde genommen immer propagandistischen Filmen gerecht werden?

Die Schau wurde in drei Sektionen unterteilt: „Verbotene Filme“, „Kontext“ und die Musikkomödien von Alexandrow und Pyrjew als Gegensatz zum „Mainstream“ der sowjetischen Filmproduktion, womit Eisenstein, Pudowkin, Dowschenko und Wertow gemeint sind. In den 20er-Jahren mobilisierten diese „vier Musketiere“ die radikale Poetik des Futurismus, um nicht banale Geschichten in Bildern zu erzählen, sondern durch die Zusammenstellung unabhängiger Bilder den Massen die Augen für „Zusammenhänge“ zu öffnen und ihnen beizubringen, neu zu sehen, neu zu fühlen und neu zu denken. Programmatisch wollte man keine Story, kein psychologisches Theater, keine glatte, unmerkliche Montage, sondern eine prinzipielle Fragmentierung des Raums, Unterbrechungen, Dehnung der Zeit, Deformation des Bildes, Biomechanik und rohen Naturalismus. Diese alternative Poetik wurde zum Kanon, der allerdings weniger als ein Jahrzehnt hielt, bis das sowjetische Kino in den 30er-Jahren seinen perfekten Ausdruck in dem Moment fand, da Michail Romm und Michail Tschiaureli die Oktoberrevolution und den Krieg immer wieder auf die Leinwand brachten, um alle notwendigen Korrekturen vorzunehmen, d. h. unerwünschte historische Akteure auszuradieren und ihre Rollen an andere zu übergeben. So wurde der sowjetische Film zum Medium einer nicht stattgefundenen Geschichte. Diese historischen „fakes“ etablierten den neuen Kanon, den die Retrospektive neben den Klassikern des Sowjetkinos als Projektionsfläche benutzt, um dagegen ihre andere Geschichtsschreibung abzusetzen.

Abweichung als Festigung der Norm

Da der Begriff des „Anderen“ in der Dokumentation jedoch nicht präsiziert wird, musste er in Locarno durch die Zusammenstellung der Filme von den Zuschauern selbst erahnt werden. In der Verbotssektion wurden zudem meist nicht verbotene, sondern vergessene Filme gezeigt, die Werke der Regisseure aus der „zweiten“ Reihe, aus dem „Schattenbereich“ (Tscherwjakow, Gendelstein, Dubson, Fedorow oder Strishak). Der „Kontext“-Schiene wurden meist Werke zugeordnet, die in der Karriere der Regisseure aus der ersten Reihe (wie „Der Traum“ von Michail Romm) als marginale Erscheinung angesehen werden oder allgemein als solche gelten, weil sie sich dem „Privatleben“ verschreiben. Die „tragischen“ Musicals wiederum werden wahrscheinlich wegen ihres Unterhaltunganspruchs als Gegensatz zum politischen Kino des Mainstream ausgelegt – allerdings die allzu offensichtliche Tatsache ignorierend, dass diese tanzende und singende Ideologie nicht weniger politisch war. So wurde in Locarno das Verbotene, das Vergessene, das Private, die Marginalie, das Zweitklassige und das Unterhaltende – ohne jegliche Reflexion – als das Andere schlechthin präsentiert.

Ein Beispiel: 1936 verfilmte Jewgeni Tscherwjakow, den die begleitende Publikation als „Regie-Entdeckung“ präsentiert, Nikolai Pogodins Theaterstück „Aristokraten“ unter dem Titel „Die Gefangenen“. Vorgeführt wird, wie Banditen und intellektuelle Saboteure beim Bau des Belomorkanals zu hundertprozentigen Sowjetbürgern umerzogen wurden. Mit Verspätung folgte dieser vergessene Film der großen Initiative der Epoche, als etwa 300 sowjetische Schriftsteller zu einer Dienstreise an den Kanal verdonnert wurden, um in allen Genres (Roman, Gedicht oder Bericht) die Lebensgeschichten der erfolgreich Umerzogenen zu erfassen. In Tscherwjakows Fim erscheint das Lager als lang ersehntes Elysium. Die strengen, doch gerechten Väter, Generäle der Sicherheitsdienstes, sorgen sich rührend um jeden Einzelnen, im Bestreben, seine unnachahmbare Individualität zu fördern. Nur im Lager wird in einem Einbrecher ein Musiker entdeckt und in einem Falschmünzer ein Maler. Eine Diebin kann Ingenieur werden und der ideologische Schädling grandiose Ingenieurspläne verwirklichen, wie er es jenseits des Stacheldrahts nie vermocht hatte. Warum dieser zynisch verlogene, ja urstalinistische Film in die „andere“ Geschichte einzuordnen ist und warum einem mittelmäßigen Regisseur obendrein eine ungewöhnliche Gabe bescheinigt wird, ist nicht nachzuvollziehen.

Das Andere verklärt, das Verbotene übertrieben

Neben dieser Verklärung des „Anderen“ brachte eine nicht historisch fundierte Darstellung der eigentümlichen sowjetischen Filmzensurpraktiken die größte Verunsicherungen innerhalb der Retrospektive mit sich. Die so genannte Repertoirekommission entschied ab 1930 jedes Jahr neu, welche Filme der Gesamtproduktion neu zugelassen wurden. Allein 1935 sortierte sie 500 Spielfilme aus dem Verleih aus, die ab 1922 produziert worden waren, also etwa 80 Prozent der gesamten Stummfilmproduktion. Begründungen für die Entscheidungen gab es nicht immer und nicht auf jeden einzelnen Film bezogen, doch so kann man natürlich 80 Prozent der sowjetischen Stummfilme als verboten betrachten. Nach 1956 wurden diese Entscheidungen jedoch stillschweigend aufgehoben.

So drehte zum Beispiel Abram Room seinen Film „Der strenge Jüngling“ (1936, nach dem Drehbuch von Juri Olescha) in Kiew. Während der Dreharbeiten wurde das veröffentlichte Drehbuch sehr breit diskutiert und der Film als großes Ereignis erwartet. Nach der Sichtung der ersten Fassung waren die ukrainischen Behörden so verunsichert, dass sie die Produktion stoppten. Olescha und Room hatten einen Disput darüber inszeniert, wie die Gesellschaft der Gleichen mit Ausnahmen umgehen kann, die dem Gleichheitsprinzip nicht anzupassen sind. Und wohin in der neuen Gesellschaft mit Gefühlen wie Eifersucht und Neid, die in der Ungleichheit begründet sind? „Der strenge Jüngling“ wurde erst 1974 aufgeführt und beschäftigt seitdem die sowjetischen Filmhistoriker, die darin einen Schlüsselfilm der 30er-Jahre sahen.

Michail Romms „Der Traum“ und Juli Raismans „Maschenka,“ die ebenfalls in der Sektion der „Verbote“ liefen, waren nicht verboten, sondern mit zwei Jahren Verzug in den Verleih geschickt worden, da zu Beginn des Zweiten Weltkrieges u. a. wegen der Knappheit des Filmmaterials den aggressiv mobilisierenden Filmen der Vorrang gegeben wurde. Werke ohne diese Wirkung wurden zurückgehalten oder verboten, wurden nach dem Krieg nicht mehr gebraucht und verschwanden im Archiv. In den 60er- und 70er-Jahren konnte die Repertoirekommission allein durch die Festlegung, wie viele Kopien von einem Film gezogen werden durften, bewirken, dass einige Werke auf diese Weise verschwanden. Die Dokumentation gibt kaum Einblicke in die Mechanismen sowjetischer Zensur und macht keinen Unterschied zwischen Verbotenem und Vergessenem.

In den meisten Filmen der Sektion „Kontext“ ist nachzuvollziehen, wie sich die sowjetischen Filme immer mehr dem in Hollywood etablierten Kanon des Geschichtenerzählens nähern – die Fragmentierung wird durch eine unmerkliche Montage ersetzt, die Originaltypen machen Berufsschauspielern Platz, das Drehen verlagert sich ins Filmatelier, und die Regisseure ahmten offen Hollywood nach. Grigori Alexandrow trachtete mit „Zirkus“ (1936) nach dem Ruhm eines sowjetischen Busby Berkeley, Juli Raisman versuchte in seinem „Zug gen Osten“ (1948) eine Replik auf Capras „It happened one night“. Das sowjetische Kino gab seine „Andersartigkeit“ auf und konnte immer einfacher in die internationalen Stereotype eingeordnet werden.

So ist es auch kein Zufall, dass die Karriere der in den 20er-Jahren sehr populären Darstellerin Emma Zesarskaja, die in der Retrospektive in zwei Filmen zu sehen war, einen Knick bekam. Ihr Typ einer schweren, langsamen Schönheit (korpulenter Körper, leidendes Madonnengesicht) passte nicht zum neuen Image einer weiblichen Heldin, wie es zum Beispiel von der dynamischen, sportlichen Blondine Ljubow Orlowa verkörpert wurde.

Die aus der Versenkung des Vergessens geholten Zesarskaja-Filme „Liebe und Hass“ und „Ihr Weg“ taugen allerdings kaum als Bausteine für ein anderes Bild der sowjetischen Filmgeschichte. Auf der Erzählebene nähern sie sich den typischen Geschichten des sowjetischen „Mainstreams“. Auch ihre Stilistik kann nur kontextuell als andersartig bestimmt werden: Vor dem Hintergrund der 30er-Jahre ist „Liebe und Hass“ wohl anders, doch wiederum völlig konform mit dem zuvor noch akzeptierten Kanon des klassischen Montagefilms.

Filmgeschichte bei Tee und Gebäck

Die Dokumentation der Locarno-Retrospektive wird beherrscht von zwei langen Gesprächen zwischen Eisenschitz und Kleiman, die versuchen, eine neue Art Filmgeschichtsschreibung zu kreieren. Das gewählte Medium entzieht sich der Präzision und kanonisiert das Genre der intimen Moskauer Konversation, der häuslichen Freundeskreisdiskurse bei Tee und Gebäck. Darin liegt ein rührender, altmodisch wirkender Gestus. Genauigkeit der Fakten ist hier nicht gefragt, deshalb können die Gespräche faktische Fehler enthalten (Anna Achmatowa wird den Symbolisten zugeschlagen) oder nicht näher belegte Behauptungen („Der sowjetische Film ist im Allgemeinen dem deutschen Expressionismus sehr nahe“). Filmgeschichte wird durch Anekdoten, Legenden und Geschichten ersetzt, die natürlich „anders“ sind als der übliche Schreibkanon.

Das Festival ist zu Ende, was weiter? Vermutlich schließen diejenigen, die mit dem sowjetischen Kino und seiner Geschichte bislang vertraut waren, die gezeigten Filme nun problem- und nahtlos in den Kanon ein und werden den Organisatoren dankbar sein, dass sie die Werke unbekannter oder wenig bekannter Filmemacher dem Schattendasein entrissen haben. Welche andere Geschichte Locarno dem sowjetischen Film gewünscht hat, bleibt jedoch im Dunkeln – obwohl eine wahrhaft andere sowjetische Filmgeschichte längst fällig ist.