Gegen die neue Unbekümmertheit

Mit den Erfolgen bei der Bekämpfung von Aids hat sich auch die Arbeit der Aids-Hilfe geändert. Doch Entwarnung kann nicht gegeben werden. Nicht nur infizieren sich mehr junge Schwule. Mit dem Ende der Sterbewelle wächst auch der Hilfebedarf

von KAREN HEINRICHS

Abgemagert und ausgemergelt, braune Flecken auf der Haut als eindeutiges Outing – die Rolle von Tom Hanks als Todgeweihter im Kinoschlager „Philadelphia“ bestimmte noch Anfang der 90er-Jahre das Bild vom Aidskranken. Heute können Aidskranke nicht nur arbeiten und für ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft kämpfen – sie können auch dick sein.

Die Aids-Aufklärung ist dagegen aus dem Stadtbild fast verschwunden. Nur noch die bunten Plakate mit den lustigen Kondom-Sprüchen bringen gelegentlich das Thema in Erinnerung. Und doch werden es auch in dieser Stadt immer mehr, die mit dem HIV-Virus infiziert sind.

Dank Medikamentencocktail leben Aidskranke länger und kämpfen heute gegen ihren Schwerbehindertenstatus und für ihre Wiedereingliederung in die Arbeitswelt anstatt, wie in den Achtzigerjahren, gegen den nahen Tod. Die 12.500 infizierten und aidskranken Berliner leben oft, sieht man einmal von der Menge der Tabletten ab, die sie täglich schlucken müssen, ein fast ganz normales Leben. Fast.

Genau darin liegt eine neue Gefahr, da sind sich Keiwanus Arasthe, Oberarzt der Aidsstation im Schöneberger Auguste-Viktoria-Krankenhaus, und alle Mitarbeiter der Berliner Aids-Hilfe e. V. (BAH) einig. Fünfzehn Jahre nach den ersten Aufklärungskampagnen machen sie nun den Kampf gegen die Unbekümmertheit zur ihrer Hauptaufgabe. Auf dem zweiten Berliner Kongress „HIV im Dialog“, der an diesem Wochenende tagt, werden Ärzte, Betroffene und Vereine Gegenstrategien suchen.

Die Lebenserwartung HIV-Positiver und die Lebensqualität haben sich zwar verbessert, die Zahl der Menschen, die sich jährlich anstecken, ist aber gleich geblieben. Jedes Jahr verzeichnet die Berliner Aids-Hilfe rund 500 Neuinfektionen – bei jungen Schwulen gibt es sogar einen leichten Anstieg.

Bernhard Bieniek vom Vorstand der Berliner Aids-Hilfe überrascht das nicht. Die neue Generation Schwuler, so Bieniek, sei weit weg von der „erlebten Katastrophe und dem Massensterben der Achtziger, die Jungen werden unvorsichtig“. Die Plakate der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die für den Gebrauch von Kondomen werben, würden da nicht reichen. Die Bundeszentrale muss das jetzt selbst einsehen. Nach Umfragen benutzen immer weniger Jugendliche das Gummi. Das „Zeitalter der Aufklärung“ braucht mehr Aufklärer.

„Schoolworking ist wichtiger den je“, mahnt auch Resi Jäger, die Geschäftsführerin der Berliner Aids-Hilfe, und appelliert an den Senat, wieder Schulberaterstellen einzuführen. „Ohne Hilfe schaffen wir das nicht.“

Mit der Verantwortung, die Berliner Jugendlichen aufzuklären, lässt der Senat die BAH allerdings alleine. Das war in den Achtzigern, kurz nach Gründung der Berliner Aids-Hilfe, anders. 1987 schickte der damalige Senator für Gesundheit und Soziales, Ulf Fink (CDU), 15 Berater in die Klassenzimmer und verteilte selbst Kondome an Schulen. Der Senator, wegen seines Engagements „Gummi-Fink“ genannt, initiierte auch großflächige Plakataktionen mit dem Slogan: „Aids geht alle an“.

Das hat sich bis heute nicht geändert. Weil Aidskranke länger leben und jährlich 500 HIV-Infizierte hinzukommen, vergrößert sich die Gruppe der Menschen, die mit dem Virus leben, ständig. Von den 15 so genannten „Schoolworkern“ des Senats ist dagegen kein einziger geblieben. „Man glaubt gar nicht, wie viel Uninformiertheit heute noch unter den Kids herrscht“, unterstreicht Resi Jäger die Notwendigkeit einer neuen Aufklärungsinitiative.

„Man müsste mit neuen Werbekampagnen und jungen Beratern die Sprache der Kids treffen“, schlägt auch Oberarzt Arasteh vor. Er ist oft ratlos im Umgang mit den Schulklassen, die sich seine Aidsstation anschauen und scheinbar nichts lernen.

Es gäbe immer noch Jungen, die Mädchen zwingen, ohne Kondom mit ihnen zu schlafen. „Das sind häufig Jugendliche mit niedriger Bildung“, erzählt Jürgen Meggers aus seinen Erfahrungen als Gründungsmitglied der BAH und Aidsberater im Gesundheitsamt Charlottenburg. Für viele Teens sei ein Aidstest zwar „völlig normal“ geworden, wirkliche Normalität im Umgang mit der Krankheit und den Kranken gebe es aber auch heute noch nicht.

Gleichzeitig werden der Aids-Hilfe seit vier Jahren die Mittel gekürzt. Im nächsten Jahr sind es wieder fünf Prozent weniger. „Finanziell gehen wir auf dem Zahnfleisch“, klagt Bernhard Bieniek. Bisher hat die Aids-Hilfe nur intern gestrichen und 50 Prozent der Arbeitsplätze wegrationalisiert. 25 Leute teilen sich jetzt 13 Stellen. Mit weiteren Streichungen müsste auch bei den Angeboten gekürzt werden, angefangen beim wöchentlichen Frühstück für HIV-positive Fixer und Aidskranke.

Dass neben den Kürzungen des Senats aber auch die Aids-Hilfe selbst nicht frei von „krummen Sachen“ ist, weiß Napoleon Seyfarth. Seyfarth ist Gründungsmitglied der BAH und selbst aidskrank. Er erzählt, dass innerhalb der Aids-Hilfe während der 15 Jahre viel Geld verschwunden sei. Erst Anfang Juli diesen Jahres hatte ein Mitarbeiter 160.000 Mark unterschlagen. Als es herauskam, beging er Selbstmord. Keine gute Schlagzeile zum 15. Jubiläum des Hilfe-Vereins.

Bernhard Bieniek hofft nun auf Unterstützung eines neuen Kuratoriumsmitglieds: Finanzsenator Peter Kurth (CDU). „Ein guter Mann“ findet Bieniek. Schon früher habe Kurth Schirmherrschaften für Projekte übernommen. Das Kuratorium entstand vor zwei Jahren, als die Aids-Hilfe bei Promis um deren Unterstützung nachfragte. Unter den 33 Mitgliedern sind zum Beispiel Harald Juhnke und Katharina Thalbach. Seyfarth unterstellt vielen Mitstreitern allerdings eher Imagepflege denn echtes Interesse: „Soziales Engagement ist schick.“ Die meisten müssen gebeten werden. Die rote Schleife schmückte früher weitaus häufiger die Jacketts der Berliner Promis.

Auch Bieniek gibt zu: „Manche engagieren sich mehr, manche machen gar nichts.“ Mangelnden Eifer hat mittlerweile aber auch die Aids-Hilfe selbst zu beklagen. Noch immer liegt die Mitgliederzahl bei 300, und die sind oft immer noch dieselben wie zu Gründungszeiten. „Nur, dass sie in der letzten Zeit immer öfter den Mitgliederversammlungen fern bleiben“, ärgert sich Bieniek, der gleichzeitig aber angesichts der Finanzlage um jeden Mitgliederbeitrag froh sein muss.

Trotz knapper Kassen will Bienik zusammen mit dem AVK nun alle zwei Jahre den internationalen Kongress „HIV im Dialog“ (HiD) organisieren. Bieneks Finanztrick: Pharmafirmen geben das Geld und dürfen für ihre Produkte werben.

An diesem Wochenende diskutieren Mediziner, Hilfe-Vereine und Kranke zum zweiten Mal im Forum Hotel am Alex ihre Erfahrungen mit dem tödlichen Virus. Sogar eine kleine Geburtstagsfeier der BAH ist drin. Die steigt heute Abend ohne viel Brimborium.

Zum Kongress sind vor allem auch Hilfe-Vereine aus Polen, Tschechien und Russland geladen. Dort breitet sich HIV aus wie in Deutschland vor 15 Jahren. Seit dem Fall des eisernen Vorhangs, berichtet auch Jürgen Meggers von der Aids-Beratungsstelle im Gesundheitsamt Charlottenburg, kämen immer mehr Stricher und Prostituierte aus Osteuropa in die Beratung. Meggers: „Die Menschen sind überhaupt nicht aufgeklärt“. Meggers Einrichtung bietet seit zwei Jahren Informationen in Russisch und Polnisch an. In Zusamenarbeit mit anderen Hilfe-Vereinen verteilt die BAH Handzettel am Straßenstrich an der Grenze zu Polen oder Tschechien.

Auch für MigrantInnen gibt es eigene Beratungsangebote. Oft kommen Infizierte gerade wegen der schlechten medizinischen Versorgung aus ihrer Heimat nach Deutschland. Keiwanus Arasteh vom AVK hat ebenfalls viele weibliche Migranten unter seinen Patienten, darunter auch immer häufiger Illegale.