Ehrlich, ohne Ganzkörperkondom

■ Scheinbar erzählt Uli Gaulkes Film „Havanna mi amor“ über den Ärger mit sowjetischen TV-Geräten, tatsächlich über Liebe, Eifersucht, Alkoholismus und Arbeitslosigkeit. Der Regisseur über den Wahrheitsgehalt von Bildern

1995 drehte Uli Gaulke ein kleines Filmchen in einem Irrenhaus in Havanna. Als dort der TV-Apparat den Geist aufgab, lernte Gaulke den Fernsehmechaniker José kennen. Dessen Werkstatt benutzte er später als eine Art Kontaktbörse für seine Abschlussarbeit an der Filmhochschule. „Havanna mi amor“ porträtiert etwa ein Dutzend Menschen, deren einzige Gemeinsamkeit es ist, dass ihre TV-Geräte in Streik gegangen sind. Von dieser Nebensächlichkeit ausgehend stößt der Film mitten ins Zentrum der kubanischen Gesellschaft vor und dokumentiert zum Beispiel die Eifersucht der Männer und den Überlebensmut allein stehender Frauen. In der Zeit der Dreharbeiten lief in Kuba gerade eine Telenovela an, die zum ersten Mal keine märchenhaften oder historischen Sujets wälzte, sondern vorgab, das stinknormale Leben von nebenan realistisch abzubilden. Vor einem Monat stellte Gaulke seinen Film bei der „Kubanischen Woche“ in der Schauburg vor und erzählte, wie das ist mit dem Realismus – in Telenovelas, aber auch in seinem eigenen Dokumentarfilm.

taz: Was ist inszeniert?

Gaulke: Nichts, bis auf manche Gänge oder Fahrten, die wir genauer vorbereiten mussten. Natürlich haben wir nie heimlich gedreht, sondern immer gesagt, wann die Kamera läuft. Und so sieht man natürlich keine Leute pur und unverfälscht, sondern Leute, die sich selber spielen.

Da gibt es diesen José. Seine erste Ehefrau ist vor vierzehn Jahren nach Übersee abgehauen. Dann sehen wir ihn, wie er sie über Tausende Kilometer hinweg anruft und sie bittet, wieder mit ihr zusammenzuziehen. Ein so wichtiges, privates Telefongespräch führt doch kein Mensch auf der Welt vor laufender Kamera. Die Szene ist doch nachgestellt.

Nein. Allerdings hat er früher schon öfters mit ihr telefoniert. Er hat ihr erzählt, dass er sich von seiner zweiten Frau getrennt hat; daraufhin hat die erste gesagt, gut, dann komme ich dich in Kuba besuchen. Sie war drei Tage in Havanna, er war die ganze Zeit total besoffen und hat sie permanent aufs Gemeinste beleidigt. Der Grund war wohl, dass er Angst hatte vor der Sache mit der Wiederversöhnung. Bei José ist es immer so eine Sache, er weiß nicht was er will. Als die Frau wieder weg war, wollte er die Versöhnung wieder und rief an, vor laufender Kamera.

Der Film zeigt also nur Splitter einer längeren Geschichte.

Genau.

Die Personen werden allesamt abgepasst in einem kritischen Moment ihres Lebens. Trotzdem sprechen sie erstaunlich offen und zwar auch über heikle Themen. In den USA oder in Deutschland wäre diese Offenheit nicht möglich gewesen, der ganze Film nicht möglich gewesen. War es schwierig, das Vertrauen dieser Menschen zu gewinnen?

Als wir wildfremde Menschen vor der TV-Werkstatt abfingen und zum ersten Mal mit ihnen nach Hause gingen, war alles sehr, sehr verhalten. Aber schon beim zweiten Besuch war ein gewisses Vertrauen da, und es wurde von Besuch zu Besuch größer. Der Hobbygewichtsheber war zunächst extrem skeptisch. Kein Wunder, hat uns doch einer seiner Arbeitskollegen in der Werkstatt gesteckt, dass er gerade eine acht Jahre dauernde Affäre abgebrochen hat, die seiner Ehefrau nicht gerade angenehm war.

Warum darf dieser Mann im Film immer über seine Treue schwadronieren, warum erfährt der Zuschauer nichts von seinen außerehelichen Missetaten? So gewinnt der Zuschauer eine vollkommen falsche Vorstellung von seiner Ehe.

Weil nicht er uns das erzählt hat, sondern seine Kollegen, und eben nicht vor laufender Kamera. Die haben sich ins Fäustchen gelacht, dass wir diesen Trickser erwischt haben.

Wir sehen eine junge Frau, die immer bestens gelaunt ist und souverän ihr Leben managt. Und plötzlich sitzt sie am Strand, verflucht ihr eintöniges Dasein und heult. Hat sie diese Szene abgesegnet?

Das war der schwerste Drehtag für uns alle. Der Kameramann ist danach zusammengebrochen, denn er war ein bisschen in die Geschichte der jungen Frau involviert. Das war der letzte Drehtag, wir waren kurz vor dem Abflug. Wie eigentlich alle unsere Interviewten hat auch diese Frau sehr viel an Problemen weggeschaufelt. Nachdem das alles aus ihr herausbrach, haben wir aufgehört zu drehen; unsere Janette ist zwei Stunden mit ihr am Strand spazieren gegangen. Dass das, was wir an Filmmaterial hatten, auch mitkommt, war der ausdrückliche Wunsch dieses Mädchens. Überhaupt meinten einige der Interviewten, dass sie selbst erstaunt seien, wie viel sie uns erzählt haben, und dass sie froh seien, all diese Dinge mal vor Fremden ausgesprochen zu haben, weil das befreiend wirkt.

Wie viel war geplant?

Die enge Verzahnung von Novela-Szenen und Realität hatten wir von Anbeginn im Kopf. Trotzdem weiß ich prinzipiell nicht, wohin die Reise geht, und genau dies ist das Spannende am Filmen. Die Frauen zum Beispiel sind im Laufe der Dreharbeiten immer stärker, immer schöner geworden. Josés Rolle dagegen verlor irgendwann seine Funktion als Dreh- und Angelpunkt des Films. Vor lauter privater Probleme hat er das nicht mehr gebacken bekommen. Auch gut, jetzt sieht man ihn so, wie wir ihn zu Beginn kennen gelernt haben.

Sie werfen einen sehr liebevollen Blick auf kubanische Telenovelas. Welche Einstellungen hegen Sie gegenüber dem gleichen Phänomen hier in Deutschland?

Früher, als Zehntklässler habe ich bis zum Erbrechen brasilianische Telenovelas geguckt. Die liefen in der DDR im dritten Programm. Das hat mich damals schon fasziniert. Ich glaube das liegt daran, dass sie sich und das Publikum ernst nehmen. Dort spiegelt das TV die Mentalität der Leute mit all ihrem Pathos, Liebe, Eifersucht, Habgier. Hier dagegen erfinden die Soaps irgendwelche Charaktere – und die wirklichen Menschen versuchen dann krampfhaft, den TV-Bildern gerecht zu werden. Die deutschen Soaps wollen immer irgendwas darstellen, was es in der wirklichen Realität gar nicht gibt. Außerdem finde ich sie schrecklich unterkühlt, so als hätten sich alle ganz viele Kondome übergestülpt. Ein weiterer Unterschied: In Kuba gibt es nur zwei TV-Programme. Und wenn eine Telenovela läuft, dann guckt sie wirklich jeder, jeder ist auf dem Laufenden.

Eine Art Running gag zieht sich durch den Film. Die Leute erzählen ihre Biografie – Scheidung, Arbeitslosigkeit – und dann die „Lebensgeschichte“ ihres TV-Geräts. Und beides wird mit ähnlicher Intensität erzählt. Das ist furchtbar komisch.

Die Menschen in Kuba haben fast eine persönliche Beziehung zum Fernsehapparat. Es ist ihr Fenster zur Welt, die einzige Möglichkeit, irgendetwas von der Welt außerhalb Kubas zu erhaschen. Einmal sagte eine Frau: „Dreimal wurde mein Fernseher schon wiederbelebt, so wie man eine Liebesgeschichte auffrischt.“ Fragen: Barbara Kern

Im Atlantis-Kino: 16h (außer Sa), 18h, 20h, Fr/Sa auch 22h