Etwas, das nicht sein sollte

DAS SCHLAGLOCH
von VIOLA ROGGENKAMP

Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewusst in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag. (Victor Klemperer, „LTI“)

Der Zug fuhr von Hamburg nach Dresden und kam gleich zu Beginn der Reise überhaupt nicht gut voran. Ich hatte mich mit meinem Gepäck in den Speisewagen gesetzt, nur eine kleine Reisetasche, bereits in fünf Tagen würde ich wieder zurück sein. Wir verließen den Hauptbahnhof in Hamburg auf die Minute genau nach Fahrplan, und die innere Spannung bis zu dem leisen Anrucken löste sich im Dahingleiten und ging über in das Empfinden, nun unweigerlich auf Reisen zu sein. Man begann, sich einzurichten. Ich saß an einem Tisch für vier Personen. Mir gegenüber hatte eine Frau Platz genommen, elegant, angenehm füllig und mit einem Buch in der Hand. Sie würde lesen; ich wollte ein wenig schreiben, meine Gedanken aufschreiben zu einem Essay von Diana Pinto, einer Soziologin, einer in Paris lebenden Italienerin und Jüdin, die in der Zeit (Nr. 28) die Juden in Deutschland aufgefordert hatte, ihre „etablierten Holocaust-Nischen“ zu verlassen.

Man kann es sich nett machen im Speisewagen, finde ich. Man sitzt und wird gefahren, bekommt zu essen und zu trinken, während sich die Welt an einem vorüberträgt. Versorgende Erfahrungen wie aus den Anfängen des Lebens im Kinderwagen. In diesem Zustand kann ich gut nachdenken. Ich werde vorangebracht und kann mich dabei einer dritten Sache zuwenden, die in der Ausschließlichkeit am Schreibtisch zu einer lastenden Konfrontation würde, aber hier im Zug wie beiläufig sich entwickeln kann.

Wir hatten die Stadtgrenze von Hamburg hinter uns gelassen, da verlangsamte der Zug seine Fahrt und blieb ausrollend stehen zwischen Wiesen, auf denen Kühe grasten. Diese Bewegung zum Stillstand erlebte ich wie etwas, das nicht sein sollte und darum bestimmt gleich vorüber wäre. Nach Minuten des Aushaltens sahen wir uns an, die Frau mit dem Buch und ich. Sie lächelte seufzend. Ich seufzte lächelnd zurück.

Der Kellner kam. Ich bestellte Tee. Am Zweiertisch neben uns saß ein weißhaariger Mann, ihm gegenüber eine junge Frau. Beide im grauen Anzug. Sie hatten noch kein Wort miteinander gesprochen, wiewohl sie in irgendeiner Weise zusammengehörten. Ich konnte es daran erkennen, wie die Frau den Mann unablässig in ihrem Blick behielt und immer wieder als den von ihr Betrachteten in sich erstehen ließ, während er nichts dazu tat, außer einfach dazusitzen. Mit ihren Augen lief sie ihn gewohnheitsmäßig ab, vorauseilend bereit für ihn, sollte er sich ihr zuwenden. Er sah aus dem Fenster. Vielleicht ein Paar? Vielleicht Sekretärin und Chef? Vielleicht sowohl als auch? Der Kellner ging an ihren Tisch hinüber und sah sofort den Mann an. „Ich hätte gern“, sagte der Mann, „einen Tee und für mich einen Kaffee.“ Das fand ich bemerkenswert. Den Tee wollte er haben für die Frau, die an ihm dranhing. Ich suchte ihre Augen. Sie nahm nichts wahr außer ihm.

Ich fahre gern mit dem Zug, und dabei trage ich dennoch in mir, was ich nicht erlebt habe, die Züge der Deportationen. Es ist nahezu Routine. Manchmal ist es ruhige Routine. Manchmal Alptraum. Dann ist es auch Routine. Ich bewahre damit etwas vor der völligen Vernichtung. Aber Diana Pinto, die italienisch-jüdische Soziologin in Paris, wirft mir das vor. Sie will, dass ich damit aufhöre. Das kann ich nicht so mir nichts, ihr nichts. Es ist in mich hineingegeben. „Juden in Deutschland“, schreibt sie, „sind heute deutsche Insider, die verzweifelt versuchen, Outsider zu bleiben.“ Stimmt.

Juden in Deutschland sind eine Minderheit und mehrheitlich keine deutschen Juden. Die meisten deutschstämmigen Juden leben in USA und Israel und sind da wie dort etwas Besonderes, noch mehr besonders als Juden italienischer, französischer oder russischer Herkunft. Deutschstämmige Juden in Deutschland gibt es wenige. Sie vereinbaren in sich etwas, was nach der Schoa nicht vereinbar ist: deutsch und jüdisch zu sein. Was war, ist zerstört, was ist, ist das Nichts. Das ist nur in diesem Land so. Furchtbar genug: Reste von dem, was an jüdischem Leben in Deutschland war, finden sich in den Familien der Täter und Mitläufer, wenn sie denn sprechen über das, was sie erinnern von Juden in Deutschland.

„Verehrte Fahrgäste“ ließ sich der Zugführer nach zwanzig Minuten über Lautsprecher vernehmen. „Wegen einer Fahrplanänderung fahren wir nicht über Schwarzenbek, sondern über Bienenbüttel.“ Verhaltenes Gelächter im Speisewagen über die inhaltslose Information. Warum nahmen wir einen anderen Weg? Aus welchem Grund? Nach weiteren zehn Minuten wieder die Stimme des Zugführers: Es sei mit 90 Minuten Verspätung zu rechnen. Handys kamen zum Einsatz. Ein Mann mit Laptop auf den Knien benachrichtigte seine Sekretärin: „Wir stehen.“ Eine Frau benachrichtigte ihre Mutter: „Mutti, wir stehen.“ Aber warum?

Allgemein gab man sich gelassen. Wir standen auf freiem Feld in einem geschlossenen Zug und hofften darauf, dass es bald weitergehen würde mit uns. Wir konnte hier ja schließlich nicht ewig stehen bleiben. Nachfolgende Züge würden kommen. Am Tisch neben mir brachte der Kellner Tee und Kaffee, sagte „bitte sehr“ zu dem Mann, während die Frau dem Kellner dankte. Sie begann, dem Mann etwas zu erzählen, während er trank und dabei die Mailbox auf seinem Handy kontrollierte. „Das war sehr lustig“, sagte sie und legte die Hände um ihre Teetasse. Er drückte auf Tasten, lauschte, begann Französisch zu sprechen und sagte vernehmlich „c’est Schrott“, womit er wohl die Bundesbahn meinte.

Die Frau mit der Mutti im Handy lachte. Überhaupt kam allgemein Heiterkeit auf, wie um der Hilflosigkeit besser begegnen zu können. Verspätungen seien doch gar nichts Ungewöhnliches mehr, bei der Bahn, bemerkte die Frau an meinem Tisch. Ich möchte über die Gründe informiert werden. Pannen können passieren. Die Willkür liegt in der Absicht, die Fahrgäste uninformiert zu halten. Das kann mich innerlich über die Maßen wütend machen.

Eine Frau in Uniform ging von Tisch zu Tisch. Sie verteilte Gutscheine der Bahn. Der Wert von 50 Mark müsse innerhalb dreißig Tagen eingelöst werden. Jeder nahm das Zettelchen entgegen und war damit beschäftigt. Sie ging weiter, rasch, zügig. Ich hielt sie auf. „Was ist denn geschehen?“, sagte ich in meiner Nervosität etwas scharf. Die Schärfe im Ton ließ sie reagieren. Sie öffnete ihren Mund und brachte Wörter heraus: „Eine Person liegt im Gleis.“

Ich erschrak, weniger vor der Nachricht als vor ihrer Sprache. In ihren Worten hatte sich das tödliche Unglück eines Menschen verwandelt in einen Verwaltungsvorgang. Abgetrennt von jedem Gefühl, von jeglicher Anteilnahme. Aus einem Unfall oder Selbstmord war in ihrer Sprache der eigentliche Akt der Vernichtung geworden, der mit steriler Ordnung Menschliches auslöschte. Wir sahen uns an, die Frau an meinem Tisch und ich. Beide waren wir blaß geworden. Da setzte sich der Zug in Bewegung. Unsere Reise ging weiter.

Hinweise:Diana Pinto hat die Juden in Deutschland aufgefordert, ihre „etablierten Holocaust-Nischen“ zu verlassenDeutschstämmige Juden in Deutschland vereinbaren, was nach der Schoa unvereinbar ist: deutsch und jüdisch zu sein