die stimme der kritik
: betr.: Trauern und Überleben in Deutschland

Die Concorde, der Absturz und die Medien

Deutschland trauert um die Opfer des Concorde-Absturzes in Paris – auf Gedenkgottesdiensten, in Regierungsgebäuden, an Currywurstbuden, vor allem aber in den Medien und dort wiederum am intensivsten auf dem Boulevard.

Deutschland trauert, und damit Deutschland auch weiß, um wen es trauert, veröffentlicht Bild die Passagierliste der abgestürzten Concorde und ein paar Fotos der Opfer und ihre Biografien gleich mit. Wer mit wem ein zweites Leben beginnen wollte, wer gerade eine schwere Krebserkrankung überstanden hatte, was die Toten sich von ihrer Urlaubsreise versprachen, was sie von Beruf waren, wie sie zu Geld kamen.

Deutschland trauert, Deutschland verlangt lückenlose Aufklärung, zumal die Friedensverhandlungen in Camp David so lang, zäh und ohne Erfolg waren, und Deutschland bekommt, was es verlangt: ARD-Brennpunkte, ZDF-Speziale, NTV-Sondersendungen und den Concorde-Experten Andreas Spaeth auf allen Kanälen.

Deutschland trauert, erfährt aber auch bis ins letzte Detail, was Zwillingstriebwerke sind, was Brian Trubshaw, der erste Concorde-Testpilot, zu sagen hat, wie viel Geld der ungarische Amateurfotograf Andreas Kisgergely für seine Aufnahme der brennenden Concorde bekommen hat (900 Mark, sagt Bild, „genug für einen Ungarn“, sagt Kisgergely), wie hoch die Entschädigungszahlungen für die Hinterbliebenen ausfallen können.

Joschka Fischer trauert und sagt: „Es ist alles ein schwer Schlag für uns alle“, was er natürlich nicht sagt, wenn eine indische Verkehrsmaschine abstürzt. Da trauert Deutschland nicht, es gibt eben solche und solche Flugzeugabstürze, und da lassen sich auch „die Schicksalswege der Opfer“ (BZ) nicht so gut nachzeichnen.

Deutschland trauert, Deutschland ist erschüttert, und das ZDF liefert schnell noch eine Reportage, die es zwischen Telekom- und Rasierschaumwerbung ankündigt. Die Bilder sind bekannt, die Fakten auch, nur die Chronologie ist besser. Hauptsache ist sowieso die Quote, und die stimmt, denn: „Der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht. Der Schrecken über den Anblick des Todes löst sich in Befriedigung auf, denn man ist nicht selbst der Tote“ (Elias Canetti).

Oder, wie die Bild-Zeitung in ihrer „In-Out-Rubrik“ unter „In“ verkündet: „Sich 10 x am Tag laut sagen: Schön, dass ich lebe.“

GERRIT BARTELS