Indische Revolution in Deutschland

Es ist so weit: Mit der Green Card sollen bis zu 20.000 Computerfachleute nach Deutschland gelockt werden. Besonders begehrt sind Inder. Die kamen bislang weder zahlreich noch besonders gern. Eine Bestandsaufnahme

von BERNHARD BALDAS

Schneller als Indien ist bisher kaum eine Nation in Deutschland zu Ansehen gelangt. Aus armen Schluckern und versonnen lächelnden Gurus wurden in wenigen Wochen geniale Wissenschaftler, Ingenieure und Unternehmer. Wir wissen, dass die moderne Mathematik auf dem indischen Konzept der Null beruht und den indischen IT-Spezialisten in Silicon Valley und Bangalore Dank für den weltweiten Internetboom gebührt. Nachdem der deutsche Fußball in die Zweitklassigkeit und die Expo tief in die roten Zahlen gerutscht sind, geht nun doch ein Ruck durchs Land. Die deutsche Regierung wirbt, ungeschliffen noch, aber lautstark, um indische Entwicklungshilfe.

Einen Schritt wieter ist man bereits in Karlsruhe, der traditionsreiche KSC ist gerade in die Regionalliga abgestiegen und die Stadt braucht ein neues Aushängeschild. Mit Hilfe von Roland Bergers Unternehmensberatung will man deutsche Internethauptstadt werden. Green Card, wie die Entwicklungshilfeinitiative bislang heißt, ist also ein wichtiges Thema. Zur Diskussion im Internationalen Begegnungszentrum sind deshalb brav alle „Angefragten“ erschienen. Mit dabei auf dem Podium zwei Inder, die als Einzige auf ihrem Namensschild ein „Dr.“ führen dürfen.

Siebentausend IT-Fachkräfte fehlen nach einer Umfrage der Industrie- und Handelskammer (IHK) in der „Technologieregion“. Goldgräberstimmung herrsche im IT-Bereich, sind sich der örtliche Green-Card-Beauftragte der IHK und der Direktor des Arbeitsamtes einig. Es gelte, die fehlenden Fachleute „pragmatisch“ ins Land zu holen. Da passt es nicht, dass Jörg Tauss, SPD-Bundestagsabgeordneter und Sprecher für Neue Medien, die Nachricht mitbringt, der Mosambikaner Umberto Adriano sei gerade an den Folgen eines rassistisch motivierten Überfalls gestorben.

Der Vertreter der deutsch-indischen Gesellschaft klärt auf, dass vierzig Prozent der neuen IT-Firmen in den USA von Indern gegründet werden und siebzig Prozent indische Gesellschafter haben. Sie haben es nicht nötig, in ein Land zu kommen, das sie nach getaner Arbeit wieder abschiebt und schlechter bezahlt. Verzweifelt erinnert der Abgeordnete daran, dass der ausländerfeindlichen deutschen Mehrheit nicht mehr zuzumuten sei. Schließlich sollen sie seine Partei ja wieder wählen. Als das Publikum die rüde Behandlung von Visa beantragenden AusländerInnen in deutschen Botschaften zur Sprache bringt und die hoch bezahlten Inder dies bestätigen, schlucken die Experten auf dem Podium.

Dr. Kumar, der indische Informatiker in Deutschland berichtet, wie er in der Berliner S-Bahn von Skins angepöbelt wird, als er auf Englisch mit dem Mobiltelefon einen Anruf beantwortet und mit Geschäftskleidung und Aktenkoffer ausgestattet zufällig einen Blick auf die Springerstiefel tragenden Jugendlichen gegenüber wirft. Nicht ängstlich oder verärgert, eher besorgt fragt Dr. Ramayya Kumar, welche Perspektiven diese jungen Leute ohne Ausbildung in Deutschland hätten. Betretenes Schweigen. Entwicklungshilfe haben sich die versammelten Honoratioren nur im IT-Bereich erbeten. Dem Bundestagsabgeordneten gibt er den Rat, die Green Card wenigstens anders zu nennen, Mogelpackungen kämen auch bei seinen Landsleuten schlecht an.

Die fünf Jahre, die ausländische IT-Spezialisten in Zukunft hier bleiben können, hat er gebraucht, um sich in Deutschland einigermaßen wohl zu fühlen. Der erste Herbst und die erste Party sind ihm noch gut in Erinnerung. Von seinem Büro in München aus, wo er bei Siemens seit 1986 in der Chipentwicklung arbeitet, sieht er die Blätter von den Bäumen fallen und befürchtet einen Moment, dass mit dem letzten Blatt die Welt untergehen könnte. Und als er zum ersten Mal in Deutschland eingeladen nach indischer Sitte einen Drink ablehnt, bekommt er den ganzen Abend kein Getränk mehr angeboten: „In Indien sagst du drei Mal nein und dann erst ja, in Deutschland heißt nein einfach nein.“ Damals frisch promoviert hatte er wie siebzig Prozent seiner Kommilitionen ein Angebot für die USA in der Tasche. Außer ihm arbeiten inzwischen alle in Silicon Valley. Er entscheidet sich bewusst für Europa. Die Amerikaner kommen ihm ungebildet und arrogant vor.

So kommt das Siemens-Angebot gerade recht. 1989 wechselt er zu einem Forschungsprojekt an die Uni Karlsruhe. Wie ein Dorf kommt ihm, der bisher nur in Millionenstädten gelebt hat, die grüne Stadt mit knappen 250.000 Einwohnern vor, „wo man mit dem Fahrrad überall hinkommt“. Er spielt in einer avantgardistischen Theatergruppe mit. Der Sohn geht in einen antiautoritären Kindergarten, und die Kellnerin in seiner Stammkneipe um die Ecke kennt sein Lieblingsgericht. Der beste Beweis für seine auch nach deutschen Maßstäben gelungene Integration ist wohl, dass er für seine neue Wohnung keinen Pfennig Kaution zahlen musste. Im Alltag vergisst Kumar sogar, dass er Ausländer ist. „Erst wenn ich einen Schwarzen oder anderen Inder sehe, fällt mir ein, dass ich genauso aussehe und mit meiner Hautfarbe ständig auffalle.“

Ein eifersüchtiger deutscher Kollege hat sich im Gegenteil darüber beschwert, dass er eine Art Exotikbonus besitze und für die gleiche Leistung mehr Aufmerksamkeit erhalte. Kumar glaubt nicht, dass viele indische IT-Leute jetzt nach Deutschland kommen. Dagegen seien sich Amerikaner und Inder ähnlicher und hätten einen gangbaren Weg gefunden, miteinander zu leben. „Sie arbeiten beide wie Tiere, akzeptieren sich im geschäftlichen Bereich und lassen sich sonst in Ruhe. Jeder lebt in seiner Community, abgesehen von Grillpartys, die nach einer festgesetzten Zeit zu Ende sind.“ Danach lebt wieder jede Gruppe unter sich.

Auch Kumars Eltern würden ihn gern in den USA sehen, wo inzwischen neun Cousins versammelt sind und er mehr als das Doppelte verdienen könnte. Dass sich jemand in Deutschland mühsam integriert, mit der Perspektive, in fünf Jahren weiterzuziehen, hält er für unrealistisch. Für ihn beginnt aber sowieso „ein neues Zeitalter der Arbeitsorganisation, in dem es egal sein wird, in welchem Land man lebt. Dafür wird die Entwicklungskluft innerhalb der Länder größer werden, wie das bereits in den USA und England der Fall ist oder auch in Indien. Um dabei zu sein brauchst du einen PC, einen klaren Kopf und systematisches Denken und das ist trotz der Armut in vielen Ländern reichlich vorhanden.“

Sein Freund Kumar Ghosh ist schon über zwanzig Jahre in Deutschland, hat hier studiert und vierzehn Jahre als Angestellter gearbeitet. Vom eigenen Ingenieurbüro Seres in München aus managt er seit drei Jahren deutsch-indische Softwareprojekte. Damit bietet er kleinen und mittleren Unternehmen Preisvorteile von bis zu fünfzig Prozent. Steuerungssysteme für Autozulieferer, vorhandene Software auf anderen Betriebssystemen zum Laufen bringen und grafische Oberflächen modernisieren hält er für typische Aufgaben, die er mit indischen Partnerfirmen ausführen kann.

Die indischen Kollegen holt er dann für einige Wochen oder Monate ins Land, muss dafür aber sechs bis acht Wochen bei den Ämtern warten. „Wenn es dann mehr als drei Monate dauert, werden die Kunden sauer.“ Er belächelt die deutsche Green Card. „Es werden welche kommen, aber es sind nicht die Leute, die sie hier suchen. Die Besten gehen in die USA, die zweite Reihe geht in die englischsprachigen Länder und erst die dritte Reihe wird nach Deutschland kommen. Die Deutschen wollen auch nicht so viel zahlen.“ Von dreißig IT-Indern, zu denen er Kontakt hat, will keiner ständig in Deutschland arbeiten. „In keinem Land der Welt dauern Entscheidungsprozesse so lange wie in Deutschland.“ Deshalb hat Deutschland seiner Überzeugung nach den Anschluss in der IT-Branche verpasst. „Früher wollte auch niemand die Verantwortung übernehmen, einen Inder einzustellen, die sind hier vorsichtiger als in anderen Ländern.“

Inzwischen hat sich das geändert. Typisch sind noch Kleider- und Sprachprobleme. Inder tragen zum Beispiel nicht gerne Socken, für deutsche Geschäftsleute aber ein Muss. Er selbst wird dennoch im Zuge der Green-Card-Regelung für einen deutschen Personaldienstleister IT-Kräfte in Indien und Osteuropa für deutsche Firmen auswählen. Doch die seien nicht mehr günstiger als Deutsche, bis Flüge und Hotelkosten bezahlt sind. „Inder sind Geschäftsleute und wollen Firmen gründen.“ Erst wenn dafür die Voraussetzungen geschaffen sind, werden die IT-Entwicklungshelfer kommen, ist er sich sicher.

Optimistischer gibt sich die Existenzgründerin Iris Becker in Freiburg mit der Geschäftsidee „Outsorcing von Deutschland nach Indien“. Mit der deutsch-indischen Firma ITB in Köln und Pune (Poona), die Software für deutsche Kliniken in Indien entwickelt und hier vertreibt, ist sie eine Kooperation eingegangen. Sie akquiriert für ITB-Indien Aufträge bei Softwarehäusern und Entwicklungsteams und baut die Zusammenarbeit mit der indischen ITB-Schwester in Pune auf. Die seien zum Beispiel die Centura-Datenbank-Gurus weltweit, schwärmt sie. Im Rahmen der Projekte kann Becker die Inder befristet herholen und will sie bei Bedarf dann auch nach der Green-Card-Regelung weitervermitteln.

Die indische Firma ist damit einverstanden. Die Mitarbeiter bekommen so im Firmenumfeld eine Karrierechance, können mit neuen Erfahrungen zurückkommen oder weitere Türen öffnen. Bereits jetzt reisen alle indischen Mitarbeiter zu dreimonatigen Praktika zur deutschen ITB-Hälfte nach Köln und sind mit deutschen Gewohnheiten und dem Klima gut vertraut. Interkulturelle Missverständnisse sind selten.

Im Alltag läuft vieles über E-Mail. Kunden der ITB wüssten besonders den Zeitvorteil zu schätzen. Bis die deutschen Kunden und Kollegen morgens ins Büro kommen, ist das Problem oft schon vom Tisch. Ihrer Erfahrung nach haben deutsche Firmen Angst, Integration und Betreuung indischer IT-Leute könnten zu viel Ressourcen verbrauchen. Mit Hinweis darauf hat sie sogar deutsche Banken überzeugt, die nun ihre Existenzgründung finanzieren.

Die Sidoun GmbH in Freiburg, Iris Beckers früherer Arbeitgeber, will dagegen die neue Green-Card-Regelung offensiv nutzen, obwohl „noch mehr passieren müsste“ angesichts einer immer weiter aufklaffenden IT-Lücke. Spezialisiert auf Software für Architekten, lässt man seit 1997 aus Kostengründen in Indien entwickeln. Zur Zeit ist der Chef selbst für zwei Wochen nach Madras geflogen, um die letzten Feinheiten an der neuen internetfähigen Software NetBau gemeinsam mit den Spezialisten von Polaris Software Lab. zu klären. Die haben gerade als erstes indisches Software-Unternehmen eine deutsche Niederlassung (in Frankfurt) gegründet.

Früher hat man es vermieden, Kunden von den indischen Helfern zu erzählen, heute ist es geradezu ein Verkaufsargument geworden, weiß Bijit Chakrabarty. Er ist für neue Projekte mit dem viel größeren indischen Geschäftspartner, der in Indien 1.500 Mitarbeiter zählt, zuständig. Selbst Kind einer Inderin und eines deutschen Vaters, ist er in Indien aufgewachsen und hat in Deutschland BWL und Wirtschaftsinformatik studiert. Er sieht sich als „Botschafter einer Bewusstseinsveränderung“ und an einer „kulturellen Schnittstelle“ zwischen deutscher Ordentlich- und Pünktlichkeit und dem kreativen indischen Chaos, das, dank einer ungebrochenen mathematischen Tradition in den meisten indischen Familien und eines erstklassigen Bildungssystems, weltweit die besten IT-Leute hervorbringe. Seine Firma wird von Polaris indische Mitarbeiter über Green Cards einstellen und zur Anpassung der neuen Software und für weitere Projekte den Großkunden für einige Monate als Berater anbieten.

Dabei betreut Sidoun beide Seiten, um eventuelle Missverständnisse erst gar nicht aufkommen zu lassen. Probleme gibt es mit Ostdeutschland: „Wegen der Neonazis sind Orte wie Dresden oder Leipzig bei den indischen Kollegen ‚Tabugebiete‘ “. Die Befristung der Arbeitserlaubnis schreckt Bijit Chakrabarty dagegen nicht. „Wer weiß, was in fünf Jahren sein wird. Nach und nach wird sich hier eine Green-Card-Kultur entwickeln und die deutsche Mentalität wird offener werden.“

Fehlt nur, dass wegen des akuten Bildungsnotstands eine große deutsche Volkspartei für den nächsten Wahlkampf ihren alten Slogan recycelt und nun „Inder für unsere Kinder“ fordert. Die könnten dann Mathematik und Informatik auf Englisch schon in der Grundschule unterrichten, und drei Fliegen wären mit einer Klappe geschlagen.

BERNHARD BALDAS, 44, freier Journalist, berät non-profit Organisationen in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit und Sponsoring