DIE RECHTSCHREIBREFORM ERÖFFNET FREIRÄUME – DIE „FAZ“ IST DAGEGEN
: Eine deutsche Reaktion

Noch in neuer Rechtschreibung kündigt die FAZ an, ab 1. August gelte wieder die alte. Ordnung muss sein. „Bei der Umstellung werden in den ersten Tagen Unregelmäßigkeiten unvermeidlich sein.“ Um Gottes willen! Unregelmäßigkeiten. Solch verholzte Nomina bleiben FAZ-Lesern auch künftig nicht erspart, aber mit Worttrennungen wie „Tee-nager“ oder „Ei-nöde“ sollen sie nicht mehr „best-raft“ werden. Und den Redakteuren werden Fehler künftig wieder „leid tun“ und nicht mehr „Leid tun“. Dergleichen Beispiele gibt es zuhauf oder etwa zu Hauf? Warum eigentlich soll nicht beides möglich sein?

Geht es wirklich um die zur Regel gemachte willkürliche Silbentrennung? (Wer trennt schon so, außer zentralprogrammierte Rechtschreibprogramme.) Geht es wirklich um diese immer wieder angeführten Beispiele von Neuschreibungen wie „Aufsehen erregend“, die dann als Superlativ „am Aufsehen erregendsten“ werden? Nein. Natürlich nicht. Die frankfurturistische Sorge heißt, „es gibt keine einheitliche deutsche Orthographie mehr“. Schrecklich. Wonach soll man sich noch richten? „In einem einzigen Brief, auf nur einer gedruckten Seite begegnet man der alten, der neuen und unzähligen privaten Rechtschreibungen“, skandalisiert das FAZ-Feuilleton zur Vorbereitung des Salto rückwärts, mit dem Rettung aus dem Schreibchaos angekündigt wird. Das Zentralorgan der Unterscheidungen von richtig und falsch will mit der Umkehr vorangehen – oder voran gehen?

Keine Sorge, erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt. Wilhelm Busch entkommt keiner. Seine Geschichtsphilosophie hat sich als die einzig haltbare herausgestellt. Wenn auch die FAZ wieder die alte Rechtschreib-Software einspielt, so vermehrt sie damit nur die Vielfalt, die sie beklagt. Sollten wir nicht just diesen unbeabsichtigten Effekt der Rechtschreibreform loben? 23 unterschiedliche Orthografien hat die Bonner Sprachwissenschaftlerin Maria Theresia Rolland ermittelt, lauter „Hausorthographien“ bei Verlagen und Presseagenturen. Wen stürzt dieser erweiterte Spielraum eigentlich in Verwirrung und warum?

Vor 100 Jahren verlangten Lehrer und Drucker nach eindeutiger Schreibweise und bekamen sie. Vor dem Zeitalter der deutschen Industrienorm war vieles möglich. Goethe zum Beispiel schrieb sich auch mal Göthe oder sogar ohne das vornehme th als Goete. Er hat mit der Schreibweise seines Namens tatsächlich gespielt. Auch andere Wörter schrieb der Meister aus Weimar mal so und mal anders. Dieser Göte, was für ein Vorbild für unsere Schüler! Entmilitarisierung, keine ABC-Schützen mehr! Stellen wir uns also Schulen vor, in denen Lehrer begründen müssen, wenn sie die Schreibweise eines Wortes als falsch anstreichen!

Was nur ist dagegen einzuwenden, wenn jetzt am Ende des Zeitalters der Normierung gewisse Dialekte in der Schreibweise aufkommen? Wir erleben die Abkehr vom simplen Richtig-falsch- und vom einfältigen Entweder-oder-Denken. An dessen Stelle tritt die elastischere Ordnung von möglich/unmöglich. Es entstehen also Spielräume, wenn 23 und bald mehr Orthografien gelten. Dass die Schrift schnell erkennbar und kein Rätselraten sein soll, versteht sich. Also nicht alles wird möglich, aber doch manches. Das Jahrhundert der Disziplin, der Stechuhr und des Rotstifts ist vorbei.

Tatsächlich geht es im Rechtschreibkrieg gar nicht um Orthografie. Es geht ums Aufbrechen mentaler Orthodoxie. An die Stelle von striktem Richtig oder Falsch tritt das Wörtchen „und“. In seinem Aufsatz „Und“ fragte bereits Wassily Kandinsky nach dem Wort, das das 20. Jahrhundert vom 19. Jahrhundert unterscheidet. Es sei das Wort „und“, das an die Stelle der zweiwertigen Logik von „ja – nein“ und der Moral „ich oder du“ tritt.

Aber irgendwie traut die FAZ-Redaktion nicht der Panikargumentation ihres Leitartiklers, mit der einheitlichen Schreibweise stehe „eine zentrale Errungenschaft der Schriftkultur“ in Gefahr. Weiter hinten im Blatt wird ein zweites Argument bemüht. Das Volk habe die Rechtschreibreform ignoriert. Das wird als „Insubordination“ gefeiert, und das Privileg der Dichter, dass jeder schreibt, wie er will, wird nun auch dem Volk in Aussicht gestellt. Das sind ganz andere Töne. Am Ende Kampf zweier Linien in der FAZ? Das wäre ja noch schöner. Oder sollten tatsächlich Redakteure das Recht der Dichter, das sie dem Volk empfehlen, selbst in Anspruch nehmen? REINHARD KAHL