Der multifunktionale Popstar

Made in Hongkong: Eason Chan, Candy Lo und Anthony Wong sind Helden in der wunderlichen Welt des Cantopop, via Film, Funk und Fernsehen zielen sie auf den chinesischen Markt. Über das Überleben in der kommerziellsten Musikindustrie der Welt

von DANIEL BAX

First things first. Lautstark flackern die Reklameclips der Sponsoren aus den Boxen über die Bildflächen am Bühnenrand und ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich, während die Musiker fast unbemerkt Stellung beziehen. Erst kurz bevor Eason Chan die Szenerie betritt, erlischt das penetrante Werbebombardement. Aber es gehört schon dazu. Denn Eason Chans Auftritt ist Teil einer Konzertreihe, koproduziert von der lokalen Radiostation Commercial Radio, die einen guten Ruf im Szene-Support hat, und einer Bank, die für ihre neue „Kreditkarte für junge Leute“ wirbt. So sieht Synergie-Effizienz in Hongkong aus.

Die Zuhörer erwarten ein Konzert mit Cantopop, wie Pop made in Hongkong genannt wird, des kantonesischen Dialekts wegen. Doch Eason Chan hat sich, zur Verblüffung seines Publikums, einen besonderen Gag ausgedacht. Die Hälfte des Abends bestreitet er ausschließlich mit englischen Popschlagern aus den 80ern – im Duett mit prominenten Gästen, die sich nacheinander auf der Bühne ein Stelldichein geben. Eason selbst trägt fast den ganzen Abend über eine Teddyfellmütze mit Bommeln, die lustig hin und her schlenkern, während er auf der Bühne umherhopst. Seine Popstar-Freunde tragen allesamt das gleiche T-Shirt mit einem Konterfei ihres Gastgebers. Zu hören gibt es „Billie Jean“ mit Breakdance-Einlage, „Time After Time“ als akustische Folknummer und zum Schluss sogar „Wake Me Up Before You Go-Go“ von Wham!. Das Ganze hat mehr von einem Karaoke-Wettbewerb als von einem richtigen Konzert und wirkt streckenweise albern wie ein Kindergeburtstag, veranstaltet von Zwanzigjährigen.

Das Publikum schweigt dazu. Nur ein paar ganz eifrige Fans schwenken einsam ein paar grüne Neonleuchtstäbchen in der Weite des Hongkong Convention Centre, einer Riesenauster aus Glas und Chrom, die vor ein paar Jahren wie ein Raumschiff ins Panorama von Hongkong gesenkt wurde. Auf sieben Etagen verteilen sich Konferenzräume, Messehallen und Konzertsäle und eben rund 4.000 Konzertbesucher, meist zwischen 15 und 25 und in modischer Kluft, wie einem Werbeprospekt eines Fashion-Designers entsprungen. Doch erst als Eason Chan endlich ein paar chinesische Stücke singt, taut das Publikum auf. Seinen jüngsten Hit – die Titelmelodie aus dem Film „Twelve Nights“, in dem Eason Chan selbst die Hauptrolle spielt –, muss er als Zugabe gleich noch einmal zum Besten geben.

Fünf Alben pro Jahr

Ein paar Tage später, im Büro seiner Agentur, sinniert Eason Chan über den Beinahe-Flop. „Ich war nervös, weil so wenig Reaktion vom Publikum kam“, sagt er. „Vielleicht lag das daran, dass viele zu jung waren, um diese englischen Hits zu kennen.“ Eason Chan selbst ist auch erst 26. Aber einen Teil seiner Jugend verbrachte er in England, dass erklärt zumindest seine Affinität – und seine Distanz zu manchen Hongkonger Eigenheiten.

Dem Nachwuchs-Herzensbrecher sagen viele eine große Zukunft voraus. Wie viele Helden des Cantopop ist er aus dem Talentwettbewerb des TV-Senders TVB hervorgegangen. Jetzt gehört er zur fast unüberschaubaren Legion der „Artists“, wie die Popidole genannt werden, die in Hongkong die Plattenregale, Plakatwände und Teenagerträume bevölkern – ganz zu schweigen von der Werbung und dem Kino. Im Westen kennt man selbst die größten Cantopop-Stars allenfalls aus Filmen: etwa die Popsängerin Faye Wong, Hongkongs Antwort auf Björk, aus Wong Kar Wais „ChungKing Express“, oder den Schnulzenkönig Leon Lai aus „Fallen Angels“, wo er ausgerechnet einen Killer mimt. Der multifunktionale Popstar – das ist ein typisches Produkt der Medienmaschinerie Hongkongs, die in ihrer Hyperkommerzialität wie die Karikatur ihrer westlichen Schwesterindustrie wirkt, deren absurde Züge sie auf die Spitze treibt. Eason Chan sieht seine Rolle nüchtern: „Manchmal irritiert es mich schon, mich einen Künstler zu nennen. Was mache ich denn schon? Ich singe einen Song, und man zahlt mir ein paar zehntausend Dollar dafür.“

In Hongkong ist das tatsächlich keine Kunst, sondern tägliches Business. Tagtägliches. „Ich habe in einem Jahr fünf Platten veröffentlicht – ich denke, das ist verrückt“, sagt Eason Chan. Aber mit weniger könnten die Plattenfirmen in Hongkong nicht überleben, der Markt ist zu klein. Platz für Experimente bleibt da wenig. „Die Hörerfahrung der Leute in Hongkong ist begrenzt – sie wollen nichts entdecken und wollen ihre Hörgewohnheiten auch nicht ändern“, findet Easons Kollegin Candy Lo. Sie war Sängerin bei einer Indie-Band, bis sie vor zwei Jahren vom lokalen Sony-Management in Hongkong unter Vertrag genommen wurde. Im letzten Sommer bestritt sie in Hongkong das Vorprogramm von Suede. Jetzt sitzt sie im Sony-Büro und gibt Journalisten Interviews. Kürzlich ist ihr viertes Album erschienen, „Color Release“ – es ist wie schon die Alben zuvor ganz einem Thema gewidmet: Alle Stücke handeln von Farben. Der CD liegen ein Poster und Coupons bei, außerdem kann man sich Candy Lo als Bildschirmschoner herunterladen. It’s a Sony after all. Natürlich gibt es auch Instrumentalversionen der Songs, mit denen sich ihre Fans in trauter Runde in den eisgekühlten Karaoke-Bars der Stadt die Zeit vertreiben können.

Die Stücke bewegen sich irgendwo zwischen Natalie Imbruglia und den Cranberries, sind melodiös und eingängig, Gesamteindruck: niedlich. Aber zwischen den unvermeidlichen Canto-Balladen lauern immer mal wieder ein paar vertrackte Samples und dissonante Gitarrentöne. „Ich muss mich anpassen, um in das Cantopop-Schema reinzupassen“, sagt Candy Lo, schließlich sei sie mit westlicher Musik aufgewachsen. „Ehrlich gesagt, fühle ich mich manchmal wie eine Art Alien.“ So war es auch beim Konzert von Eason, mit dem sie befreundet ist. Die Reaktion des Publikums hat sie befremdet. „Wie ein Friedhof“, ärgert sie sich. „Vielleicht hat es etwas mit unserer Kultur zu tun: Hongkonger zeigen ungern ihre Gefühle, sie sind schüchtern.“

Popstars in Hongkong sind wenig mehr als Angestellte ihrer Plattenfirmen, die den Terminkalender festlegen. Fast ständig stehen die Instant-Idole vor irgendeinem Mikrofon oder einer Kamera: „Big Brother“ ist nichts dagegen. Am Abend muss Candy Lo noch einen Gastauftritt absolvieren. Der Produzent Mark Lui gibt ein Konzert, und einige der Musiker, mit denen er gearbeitet hat, sollen ihn auf der Bühne besuchen. Entsprechend zusammengewürfelt wirkt die Show.

Zunächst spielt eine Band düsteren Metalrock, dann, flankiert von Gogotänzern, beschallt ein DJ die Halle mit Billigtechno in der Manier von Blümchen oder Scooter, bis Mark Lui wieder auf Rock umschaltet. Höhepunkt des Abends ist das Erscheinen des Mädchenschwarms Leon Lai, der mit Sonnenbrille und Elvis-Anzug seinen aktuellen Hit abspult. Candy Lo absolviert ihren Einsatz sichtbar lustlos, der Auftritt ist Arbeit. Zwischen einzelnen Auftritten werden Videoschnipsel eingespielt, und am Ende gibt es ein Medley englischer Hits – eine gewagte Kombination, für deutsche Verhältnisse.

Popstars als Angestellte

Obwohl sie auf den ersten Blick wie Kopien westlicher Muster wirken, funktionieren Cantopop-Konzerte in ihrem Anything-goes nach eigenen Regeln. Die Formen sind vertraut, aber der Umgang damit fremd – der ursprüngliche Kontext scheint beim Kulturtransfer auf der Strecke zu bleiben. Aber das gilt nicht nur für asiatische Adaptionen fremder Vorlagen: Ähnlich muss es einem US-Rapper gehen, der sich in Deutschland zum ersten Mal mit dem Schlager-HipHop eines Oli P. konfrontiert sieht. In Hongkong gilt vor allem ein Maßstab zur Bewertung von Qualität: die Logik des Geldes. „Anthony Wong wird nicht als echter Popstar angesehen, weil er nicht so viel verkauft“, sagt Eason Chan über sein Vorbild. Der ist fast schon ein Cantopop-Veteran: In den 80ern war er mit seiner Gruppe Teil des großen Band-Booms, der Hongkongs Musikszene durcheinander wirbelte. „Damals sorgten eine Handvoll Electronic-, Gothic-, und Metal-Bands für Aufsehen. Doch dann ebbte die Welle ab“, erinnert sich Anthony Wong.

Die Logik des Geldes

„Erst in den letzten paar Jahren gibt es wieder ein paar Bands, aber sie bleiben eher Underground.“ Um sie zu fördern, hat Anthony Wong kürzlich ein eigenes Label gegründet. Das Treffen mit dem Sänger artet rasch zur Geschichtsstunde aus. „Die 80er-Jahre waren die goldene Ära des Cantopop“, erzählt er, die erste Manifestation einer eigenständigen Popkultur in der Kronkolonie. „Davor bestand die meiste Musik aus Cover-Versionen japanischer und englischer Hits.“ Der chinesische Einfluss war von jeher eher gering. „Ich habe erst in den letzten zehn Jahren begonnen, ältere chinesische Musik zu hören“, gesteht Wong und schwärmt von den Chansons aus dem vorrevolutionären Schanghai der 30er- und 40er-Jahre. „Aber meine Wurzeln liegen in westlicher Musik.“

Die Geburt aus dem Geiste des Plagiats ist dem Genre heute noch anzumerken. Trotzdem verkaufen die Stars des Cantopop heute weit mehr Platten als westliche Interpreten, und wer in Hongkong auf Englisch singt, gilt schon als „alternativer“ Musiker, ein bisschen verschroben jedenfalls. „Die Szene in Hongkong ist nicht so abwechslungsreich wie im Westen. Um im Mainstream zu überleben, kommt man besser mit einem Liebeslied“, sagt Anthony Wong.

Trotz dieser gewissen Eintönigkeit ist die Bedeutung Hongkongs als Popmetropole unbestritten. Hongkong steht im Zentrum der Aufmerksamkeit und exportiert seine Popstars überallhin, wo Chinesen leben – nach Taiwan und nach China, dass den dekadenten Glamourimport begierig aufsaugt, zu den kaufkräftigen Auslandschinesen in Südostasien und in die Chinatowns dieser Welt. „Alle Augen ruhen auf Hongkong, hier gibt es die Infrastruktur“, so Wong, „aber das Zentrum verschiebt sich allmählich – der Einfluss der Szene in Taiwan wächst, und der Markt in Mandarin wird wichtiger! Früher hieß es, in Abwandlung des Frank-Sinatra-Schlagers: Wenn du es in Hongkong schaffst, dann schaffst du es überall. Aber bald werden Schanghai oder Peking die neuen Zentren sein – sie haben großartige Musiker, nur noch nicht die nötige Industrie.“

Noch importiert China 90 Prozent seiner Popstars aus Hongkong, die Vorlieben in der Volksrepublik decken sich mit dem Angebot aus der „Sonderverwaltungszone“ – trotz der Sprachbarriere. Denn Cantopop funktioniert nicht in Schanghai, Peking oder auch Taiwan, dort versteht man die Sprache aus Südchina nicht. Schon jetzt übersetzen die Musiker ihre Songs deshalb in Mandarin-Versionen, um sie auch im Norden zu verkaufen.

Wenn die Bedeutung des Mandarin weiter zunimmt, wird Cantopop eines Tages Geschichte sein? „Ich fürchte, der Tag könnte einmal kommen – aber ich hoffe, nicht“, sagt Anthony Wong. „Unser Dialekt hat eine gewisse Einzigartigkeit. Und wir sollten unsere Musikkultur pflegen.“

Cantopop-Konzert mit Anthony Wong, am 29. und 30. 7., ab 20 Uhr, im Haus der Kulturen der Welt, Berlin